Zum Inhalt springen

Fünf s i c h t Weisen

Die Geschichte über fünf, die sich zufällig begegneten.

5 s i c h t Weisen

Sami

5 s i c h t Weisen

Sami war ein putziger Welpe. Er wurde auf einem Bauernhof geboren. Die Geburt war nicht geplant. Samis Mutter war immer frei – sogar wenn sie läufig war. Irgendwann ist es dann passiert. Ein Hundespaziergänger wanderte mit seinem Rüden am Hof vorbei und die Natur nahm ihren Lauf. 68 Tage später erblickten fünf Welpen das Licht der Welt. Samis Papa war ein schwarzer Labrador, der immer Hunger hatte. Die Farbe des Fells und die Freude am Essen hat Sami von seinem Vater geerbt. Samis Mutter vermachte ihm die weißen Tupfen auf der Nase.

Die erste Zeit in Samis Leben war eine unbeschwerte. Tollpatschig entdeckte er mit seinen Geschwistern zusammen die große weite Welt. Damit nichts Schlimmes passiert, warf die Mutter immer mal wieder ein fürsorgliches Auge auf die kleinen Welpen. So lernte Sami seine Grenzen kennen. Es war ihm erlaubt beim Spielen einen gefährlichen Hund zu mimen. Wenn er aber einem Geschwisterkind wehtat, dann Schritt die Mutter ein. Hin und wieder kam Besuch auf den Hof. Die neuen Welpen waren die Attraktion im Dorf. Fast jedes Kinder kamen in den ersten Wochen einmal zum Streicheln vorbei.

Ein Mädchen kam auffällig häufig. Bei jedem Besuch verbrachte es die meiste Zeit mit Sami. Das Kind hatte lange dunkle Haare und lachte oft. Außerdem brachte sie immer etwas Leckeres zum Essen mit. Um an ein Leckerli heranzukommen, probierte Sami alles aus. Manchmal wusste der kleine Welpe nicht recht, was von ihm erwartet wurde. Dann führte er ein paar gelernte Kunststücke nacheinander aus. Er gab Pfötchen, rollte sich und stellte sich zum Männchen auf die Hinterbeine. Dem Kind gefiel alles. So kam Sami immer zu seinem Leckerli.

Eines Tages kam das Kind mit einer Schnur. Sami hatte schnell den Eindruck, dass es sich um keinen normalen Tag handelt. Das Kind war heute fröhlich. Die Schnur wurde um Samis Hals gebunden. Das war Sami nicht recht. Er lies es sich aber gefallen. Sami rechnete mit einem Leckerli zur Belohnung und da lag er goldrichtig. Kurz nachdem die Schnur um seinen Hals gewickelt wurde, zog das Kind einen Hundekeks aus ihrer Jackentasche. Dabei sah Sami, dass in der Tasche des Mädchens jede Menge weiterer Leckerli steckten. Das waren Aussichten, die Sami froh stimmten. Das Kind zog an der Leine, so das Sami nichts anderes übrig blieb, als der Schnur zu folgen. Das begeisterte ihn nicht. Trotzig setzte er sich hin und schüttelte widerwillig mit dem Kopf. Das Kind dreht sich um und redet nett auf ihn ein. Dabei gab es wieder ein Leckerli. Samis Widerstand brach. Wenn man so nett mit ihm sprach, dann kooperierte er gerne. Bisher hatte er nichts Böses im Leben erlebt. Unschuldig ließ er die Dinge auf sich zukommen. An diesem Tag passierte eine Menge. Bisher war er der Meinung, dass die Welt am Ende des Feldes endete, das sich vor dem Hof aussteckte. Aber die Welt war größer. Hinter dem Feld war ein anderer Bauernhof, und an diesen Hof grenzte ein weiterer. Sami war fassungslos, als er sah, wie viele Höfe danach folgten. Und die Düfte. Alles war neu. Gespannt nahm er jeden Geruch mithilfe seiner Nase auf. Und dann kam das Tollste. Das Mädchen betrat zusammen mit Sami einen dieser Höfe. Sofort kamen drei weitere Menschen dazu. Alle streichelten Sami. Alle waren deutlich sichtbar recht froh mit dem kleinen Welpen. Sami setzte sich mit hoch erhobener Nase in die Mitte der Gruppe. Es sah so aus, als ob er im Moment alles so macht, wie die Menschen es sich wünschen. Sami war zufrieden. Dieser Bau war groß, hell und warm. Der Raum gefiel Sami besser, als der Bau, in dem er mit seiner Mutter wohnte. Und die Menschen waren freundlich. Sie streichelten Sami und lobten ihn. Sie freuten sich über jedes Kunststück, das er vorführte. Am Ende gab es immer ein Leckerli. Sami war rundum zufrieden mit sich und der Welt. Erst als es draußen langsam dunkel wurde, wunderte er sich. Normalerweise hielt er sich um diese Zeit zusammen mit seinen Geschwistern in der Nähe der Mutter auf. Heute lag er alleine auf einer Decke. Er schaute die Menschen fragend an. Er bekam aber keine Antwort. Alle gestikulierten ihm weiterhin, sich auf die gemütlich aussehende wollige Unterlage zu legen. Sami war müde. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Deshalb legte er sich irgendwann auf die Decke und schlief ein.

Der nächste Tag lief ähnlich ab und Sami realisiert, dass er ein neues zuhause hatte. Er wuchs zu einem wohlerzogenen Familienhund heran. Seine Tage liefen in der Regel ähnlich ab. Morgens war es zunächst hektisch. Alle Bewohner standen früh auf und wuschen sich und zogen Kleidung an. Dabei liefen sie schnell hin und her. Keiner hatte Zeit für Sami. Dann verlies einer nach dem anderen das Haus. Zurück blieb meist nur ein Mensch. Das war eine Frau. Die Frau war seine Hauptbezugsperson. Sie spazierte mit ihm und gab ihm Essen. Ansonsten war die Frau langweilig. Deshalb freute er sich immer, wenn die anderen wieder nach Hause kamen. Da war meistens einer dabei, der Zeit für ihn hatte. Das Mädchen mit den braunen Haaren streichelte ihn. Und es brachte ihm Kunststücke bei. Der Sohn der Familie nahm ihn gerne mit nach draußen. Hier tobte Sami sich aus. Manchmal spielte der Jugendliche mit ihm mit einem Ball. Sami liebte es, den Jungen beim Radfahren oder Skateboard fahren zu verfolgen. Und die Reiß- und Zerrspiele mit dem wilden Kerl gefielen ihm. Das Mädchen mit den dunklen Haaren war meist vorsichtig. Mit dem Jungen spielte er wild. Bei Ausflügen mit seinen Menschen lernte Sami hin und wieder Artgenossen kennen. Manche der anderen Hunde waren ihm sofort sympathisch. Andere gefielen ihm von Anfang an gar nicht. In der Regel kommunizierten die Menschen miteinander, so das Sami nicht einfach weiter konnte. Mit den netten Artgenossen tollte er meist gerne frei herum. Hunde, die ihm unangenehm waren, knurrte er an. Dann wusste sein Mensch Bescheid und hielt den anderen Hund von ihm fern. Das klappte problemlos. Sami fühlte sich sicher und vertraute seinen Menschen.

Die erste Zeit in der neuen Familie war für Sami aufregend. Dieser Lebensabschnitt verging wie im Flug. Er war ausgelastet und froh. Ein paar Jahre später änderte sich seine Situation: Er hatte manchmal Langeweile. Der Junge fuhr oft mit einem lauten und stinkenden Zweirad im Dorf herum. Wenn er dieses Gefährt nutzte, dann nahm er Sami nicht mit. Das Mädchen war immer seltener zuhause. Sami kam mit dieser Situation zunächst recht gut zurecht. Ihm reichte es, wenn er sein Fressen regelmäßig bekam und er nicht alleine war. Seine Hauptbezugsperson war meistens zu Hause bei ihm und gab ihm regelmäßig sein Essen und führte ihn täglich aus.

Dann geschah etwas Dragisches. An einem Tag sprach die Frau traurig mit ihm. Dann fuhr sie fort und kam nicht wieder. Sami bekam in den nächsten Tagen nicht mehr regelmäßig etwas in den Fressnapf. Oft war es notwendig, dass er einen Menschen um Fressen anbettelte. Manchmal war niemand da, um ihm Essen zu geben. Immer öfter passierte es ihm, dass man ihn draußen vergaß. Nach und nach fand er Plätze in der Natur oder im Dorf, an denen er es für sich behaglich einrichtete. Er war aber nicht gerne alleine. Er wohnte seit der Geburt mit Menschen zusammen. Jetzt gab es keine Bezugsperson mehr in seinem Leben. Am Schlimmsten war für Sami, dass er den Eindruck hatte, dass die Menschen ihn nicht mehr gerne hatten. Er freute sich immer, wenn er jemanden sah. Er begrüßte die Person dann. Das hatte er früher so gelernt. Heute wurde er aber meist verscheucht, wenn er auf einen Menschen zulief.

An einem Tag ist Sami wieder alleine unterwegs. Bei ihm zuhause ist niemand. Zumindest hört keiner auf sein Bellen. Er fühlt sich einsam. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als etwas Gesellschaft. Außerdem hat er Hunger. So rappelt er sich auf und läuft zunächst ziellos durchs Dorf. In einem Hinterhof findet er einen zugebundenen gelben Sack. Aus Erfahrung weiß er, dass in solchen Säcken oft leckere Essensreste stecken. Er freut sich. Schnell hat er den Sack durchgebissen. Aus dem Sack steigen leckere Gerüche in seine Nase. Unter anderem duftet es nach Fisch. Meeresfrüchte liebt er. Er durchwühlt den Inhalt des Sackes weiter. Dabei verteilt er die einzelnen Gegenstände um sich herum. An fast jedem Teil findet er etwas Leckeres. Für Sami ist dies ein richtiger Festtagsschmaus. Die Freude hält leider nicht lange an. Als er wieder seine Nase in den Sack steckt, hört er hinter sich einen Schrei. Ein Mensch kommt auf ihn zugelaufen. Die Person wirkt bedrohlich auf ihn. Sie schimpft laut. Sami wird angst und bange. Schnell läuft er davon. Er traut sich erst spät, zum Verschnaufen wieder anzuhalten. Er sieht sich um. Das Dorf liegt weit hinter ihm. Ihm ist niemand gefolgt. Seine Angst schwindet und er schlendert langsam weiter. Er nimmt die Umgebung wieder wahr. Direkt vor sich entdeckt Sami ein Loch. Er steckt die Nase in dieses Loch. In dem Loch riecht es so, als ob etwas Interessantes darin zu finden ist. Schnell bewegt er die Pfoten zum Loch und buddelt, um es zu vergrößern. Das macht ihm Spaß und so gräbt er eine Weile vor sich hin. Irgendwann hat er keine Lust mehr zu buddeln. Leider hat er nicht das gefunden, was der Duft ihm versprach. Er weiß nichts mehr mit sich anzufangen. Er fühlt Leere in sich aufsteigen. Er ist so alleine. Dann nimmt er in der Ferne eine Bewegung wahr. Am anderen Ende der Anhöhe auf der er verweilt, spaziert jemand. Es handelt es sich um einen Menschen mit einem Hund. Sami schöpft Hoffnung. Er wünscht sich, sich zu den zweien zu gesellen. Er hätte so gerne Gesellschaft. Er fühlt sich so alleine. Schnell läuft er auf die beiden zu. Beim Laufen denkt er an Dinge, die ihn froh stimmen. Menschen mit Hunden haben oft etwas zu essen. Er hofft, dass er ein Leckerli abbekommt. Als Sami sich den beiden nähert, entdeckt der andere Hund ihn als erstes. Er guckt ihn zunächst mit großen Augen an. Voller Neugier reckt er den Kopf. Sami kennt den braunen Hund nicht. Er weiß nicht, wie dieser reagieren wird, wenn Sami näher kommt. Aber der erste Eindruck zeigt ihm, dass er ihm wohlgesonnen ist. Dann entdeckt die Frau Sami. Sami bemerkt, dass der bisher frohe Ausdruck in den Augen der Frau sich blitzartig verwandelt. Die Frau wirkt wie erstarrt und sieht hilfesuchend um sich. Sami hält inne und überlegt, was zuletzt passiert ist. War er unartig? Er hatte bisher keine Gelegenheit dazu? Er verlangsamt seinen Lauf. Dabei bemerkt er, dass die Hündin sich ebenfalls anders verhält. Sie hat jetzt alle Nackenhaare aufgestellt, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt und starrt aggressiv in seine Richtung. Die Neugier ist verschwunden. Sie zeigt ihm ihre Zähne, reißt an der Leine und bellt laut. Die Frau bändigt die Hündin nur mit Mühe. Sami wird klar, dass die beiden ihn nicht in ihrer Nähe dulden werden. Er dreht traurig ab. Er hatte sich so gefreut, als er die potentielle Gesellschaft entdeckte. Er ist wieder einsam. Er überlegt, warum die Anderen ihn nicht in ihrer Nähe dulden. Ihm fällt kein Grund ein. Er hat sich so verhalten, wie er es gelernt hat. Früher haben die meisten Menschen und fast alle Hunde ihn gemocht. Sie haben seine Nähe nicht gescheut. Heute ist das leider nicht immer so. Deshalb genießt er die Tage umso mehr, an denen er auf Menschen trifft, die ihm freundlich gesonnenen sind.

Es gibt wenige Tage, an denen andere Menschen sich freuen, wenn sie Sami alleine herumstreunen sehen. Deshalb sind diese Tage etwas Besonderes und Sami erinnert sich gerne wieder an sie. Manchmal versucht er, eine Wiederholung dieser angenehmen Begegnungen zu erreichen. Zum Beispiel sind Menschen, die auf Bänken sitzen, oft nett zu ihm. Und überdurchschnittlich oft fällt etwas zu Essen für ihn ab, wenn er Menschen auf einer Bank antrifft. Sitzgelegenheiten sind allgemein etwas Tolles für Sami. Er läuft gerne um diese herum und schnuppert den Boden ab. Fast immer findet er hier Essbares. Sogar wenn es nur ein kleiner Rest ist, ist dies ein Highlight in Samis aktuellem Leben. Fast täglich besucht er eine Bank in der Nähe der Straße. Neben der Bank fließt ein Bach. Aus dem Bach trinkt Sami gerne. Das Wasser entspringt unmittelbar in der Nähe auf der anderen Seite der Straße. Deshalb ist es sogar an einem warmen Sommertag kühl und schmeckt herrlich frisch. In der Umgebung der Bank findet Sami fast immer etwas zum Beißen. Abends sitzt hier gelegentlich eine Gruppe Teenager. Manchmal ist der Junge hier, bei dem er wohnt. Sami freut sich, wenn er diesen sieht. Er wird dann gestreichelt. Und ab und an spielt jemand mit ihm. Sami fühlt sich dann wie in alten Zeiten. Außerdem gibt es immer Leckeres zu essen. Davon bekommt Sami meist etwas ab. Wenn ihm einmal nichts von den Snacks angeboten wird, wartet er ab. Sobald die Gruppe mit ihren lauten Zweirädern wieder verschwindet, bleiben meist die Verpackungen zurück. Sami wühlt dann nach Herzenslust in dem Abfall herum. Das Herumwühlen gefällt ihm am besten. Geheuer ist ihm das Zusammensein mit der Jungen-Clique nicht immer. Manchmal sind sie Jugendlichen wild. Dann gibt Sami acht, dass ihn keiner verletzt. Das gilt insbesondere dann, wenn die Gruppe mit den lauten Zweirädern herum fährt. Sami bevorzugt Begegnungen mit einzelnen friedlichen Menschen.

Begegnungen mit nur einem Menschen sind für Sami besser einschätzbar. Oft sieht er schon beim Heranlaufen, ob der Gegenüber ihm freundlich gesonnen ist oder nicht. Die Körperhaltung der Person zeigt es ihm. Wenn der Mensch seinen Körper anspannt und ihn anschreit, dann ist dieser ihm sicher nicht wohlgesonnen. Sami dreht dann schnell ab und versucht anderswo sein Glück. Manche Menschen bleiben locker und reden liebevoll mit ihm. Mit den Personen hat Sami gerne Umgang. In diesem Spätsommer parkt manchmal ein Mann sein Auto in der Nähe der Bank, die Sami gerne und täglich aufsucht. Der Mann kommt hierher, um mit einem Gegenstand auf das Feld hinauszugehen. An der höchsten Stelle stellt er das Etwas ab und schaut hindurch. Sami wundert sich, dass der Mann den vielen Mauselöchern auf dem Feld überhaupt keine Beachtung schenkt. Vielmehr steht er die ganze Zeit reglos auf dem Feld. Manchmal ist dies eine recht lange Zeit. Wenn der Mann mit der Beobachtung auf dem Feld fertig ist, dann schlendert er zur Bank zurück und lässt sich hier eine Weile nieder. Sami freut sich immer, wenn er den Mann entdeckt. Dieser Mann bleibt stets locker und spricht nett mit Sami. Sami ist traurig, wenn der freundliche Mann etwas später wieder in sein Auto steigt und wegfährt. Es gefällt Sami, dass der Mann immer ein Brot mit Leberwurst in einer Tasche mit sich trägt. Der kleine Hund liebt Wurst und meist gibt der Fremde ihm etwas von dem Brot ab. Sami ahnt nicht, dass dieser Mensch einmal eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen wird.

An einem Tag hat Sami Glück. Wieder entdeckt er den Mann. Dieser sitze auf der Bank. Als Sami langsam auf den Mann zuläuft, nimmt der keine Kenntnis von Sami. Der Mann schaut unentwegt auf das schwarze Etwas, durch das er sonst auf dem Feld immer starrt. Sami hält kurz inne, als er bei dem Mann ankommt. Normalerweise streichelt der Mann ihn, wenn er ihn sieht. Heute wäre Sami ebenfalls gerne gestreichelt worden. Dann steigt Sami aber ein Geruch in die Nase. Er riecht Leberwurst. Der Duft kommt aus der Tasche des Mannes, die hinter der Bank steht. Sami läuft zu dem Geruch. Er hat sich nicht unter Kontrolle. Sein Geruchssinn leitet ihn. Er steckt die Nase in die Tasche. Schnell hat er ein Leberwurstbrot in seinem Maul. Er glaubt sein Glück kaum. Er weiß: Wenn der Mann ihn entdeckt, dann nimmt er ihm das Brot sicher wieder ab. Deshalb verzichtet Sami heute auf die Streicheleinheit. Mit dem Brot im Maul läuft er schnell weiter auf die andere Seite der Straße. Hier versteckt er sich zwischen Büschen und genießt das Brot in aller Ruhe. Dieses phantastische Erlebnis bleibt ihm lange in Erinnerung.

Sami denkt oft an das Leberwurstbrot. Die Gegebenheit hat sich fest in seinen Kopf eingebrannt. Bei den täglichen Streifzügen macht der Futterdieb in den nächsten Tagen immer wieder an der Bank halt. Meist findet er die Bank leer vor. Dann zieht er enttäuscht weiter. Ein paar Tage später hat er Glück. Der freundliche Mann sitzt auf der Bank. Dieses Mal starrt er nicht in die Kamera. Im Gegenteil. Heute scheint er die Umgebung zu genießen. Er macht einen frohen Eindruck. Sami hat den Mann vorher schon ein paar Mal dabei beobachtet, wenn er dasaß und scheinbar an nichts dachte. Vielen Menschen ist das nicht möglich. Sami weiß das. Dieser Mann schaltet aber oft auf Nichtstun um. Er sitzt dann da und genießt die Umgebung. Sami hat sich einmal neben den Mann gesetzt. Die beiden haben eine lange Zeit nur so zusammen dagesessen. Sami hat sich gemeinsam mit dem Mann nicht alleine gefühlt. Er erinnert sich gerne an dieses Zusammensitzen. Hoffentlich sitzt der Mann heute wieder länger auf der Bank. Sami läuft langsam auf diese zu. Er freut sich schon darauf, von dem Mann gestreichelt zu werden und länger mit ihm zusammen die Zeit zu verbringen. Kurz vor der Bank steigt dann ein Duft in seine Nase. Leberwurst! Sami ist sich sicher, dass hier vor kurzem das Leberwurstbrot war. Deutlich riecht er eine Spur. Die Wurst wurde von der Bank weggetragen. Sami erkennt den Weg der Leberwurst genau und folgt diesem Weg mit der Nase auf dem Boden.

Unmittelbar hinter der Bank wachsen wilde Sträucher. Sami bahnt sich seinen Weg durch dieses Gehölz - erst etwas bergauf in Richtung Straße und dann bergab. Der schwarze Hund stößt auf ein Rohr, durch das der Bach unter der Fahrbahn hindurch geleitet wird. Wenn es regnet, strömt eine Menge Wasser durch das Rohr. Heute fließt der Bach flach. Sami läuft auf das Rohr zu. Kurz vor dem Rohr bemerkt er eine Maus. Trotz Leberwurstgeruch widersteht er der Versuchung nicht. Er schnappt sich die Maus und rennt weiter. Sami läuft mühelos durch das Rohr. Auf der anderen Straßenseite angekommen sieht Sami einen der Jungen, die sonst ab und zu auf der Bank sitzen. Erschreckt öffnet er sein Maul. Hier trifft er in der Regel nie jemanden an. Sami kennt dieses Gebiet. Hier wachsen Sträucher an einem Abhang, der jetzt auf der anderen Seite bis zur Straße hinauf führt. Der Junge hat die Leberwurst in der Hand. Sami bellt den Teenager an. Samis Ziel ist es, zu erreichen, dass dieser ihm etwas von der Wurst abgibt. Der Junge scheint sich aber im Moment überhaupt nicht für das Leberwurstbrot zu interessieren. Er sieht mit aufgerissenen Augen nach oben. Dort liegt das Zweirad, mit dem der Junge sonst oft fährt. Der Teenager hat offensichtlich große Angst. Er traut sich nicht, zu seinem Zweirad vorzudringen. Vor dem Gefährt liegt die braune Hündin. Diese knurrt den Jungen an. Sami kennt den Hund. Er hat sie schon öfter in Begleitung eines Menschen gesehen. Sami versteht den Jungen. Die Hündin ist scheinbar keine freundlich gestimmte Artgenossin. Sami hat den Eindruck, dass sie nicht frei ist. Zumindest hat sie eine Leine um den Hals und liegt auf dem Boden. Allem Anschein nach würde sie sich gerne wegbewegen, hat aber keine Möglichkeit dazu.

Der Junge hat die Gelegenheit, das Leberwurstbrot zu essen. Das ist in Samis Augen sicher das Ziel des Jugendlichen. Weshalb hat er es sonst aus der Tasche des Fotografen geholt? Wieder passiert etwas. Sami sieht eine Frau über das Feld heraneilen, welches an die Sträucher grenzt. Sami erkennt die Frau. Diese Frau gehört zu der braunen Hündin. Wie Sami es erwartet, eilt die Frau zu dem geduckt liegenden Tier und nimmt die Leine in die Hand. Beim letzten Treffen hatte Sami den Eindruck, dass die braune Hündin der Frau nicht traut und sich bei ihr an der Leine nicht sicher fühlt. Heute wirkt das anders. Das Tier macht in dieser Situation den Eindruck, als ob sie sich über das Erscheinen der Frau freut und gerne mit ihr an der Leine weggeht. Während die Frau kurz auf die Hündin einredet, passiert wieder etwas. Aus dem Rohr hinter sich sieht Sami den freundlichen Mann zu sich hinauf steigen. Die Frau und die Hündin vermeiden es allem Anschein nach bewusst, dem Mann zu begegnen. Sie fühlen sich offensichtlich unwohl. Die beiden hetzen weiter den Abhang hinauf zur Straße und verschwinden. Sami wundert sich. Er läuft öfter zwischen diesen Sträuchern herum. Hier findet man oft Abfall, der lecker schmeckt. Er hat hier aber vorher nie einen Menschen angetroffen. Heute ist hier der Teufel los. Er bellt in alle Richtungen. Er hofft, damit die Aufmerksamkeit auf die Leberwurst zu lenken. Er verspricht sich, auf diese Weise einen Teil der Wurst abzubekommen. Aber daraus wird erst einmal nichts. Der freundliche Mann schreit ihn an. Das verunsichert Sami. Sami bellt nicht mehr und legt sich bewegungslos auf die Erde. Dann beschimpft der freundliche Mann den Jungen. Dieser gibt dem Mann daraufhin das Leberwurstbrot. Sami hat jetzt echte Hochachtung vor dem Mann. Dieser sieht sich genau an, was er von dem Jungen bekommen hat. Sami erkennt, dass es sich dabei nicht nur um ein Leberwurstbrot handelt. Der freundliche Mann scheint dem anderen Gegenstand deutlich mehr Beachtung zu schenken. Samis Hochachtung schwindet wieder etwas. Der Mann setzt scheinbar die Prioritäten falsch. Der Junge wechselt jetzt ein paar Worte mit dem Mann. Das Gespräch wirk nicht freundlich. Im Anschluss eilt der Mann zurück auf die andere Seite der Straße. Dieses Mal nimmt er aber nicht den Weg durch das Rohr. Sami folgt ihm. Der Mann hat das Leberwurstbrot in seiner Hand behalten. Als die beiden am Auto des Mannes ankommen, ist Sami enttäuscht. Der Mann wird doch nicht mit dem Leberwurstbrot davon fahren, ohne es vorher mit ihm zu teilen? Er sieht den Mann traurig an und der Mann erwidert den Blick. Was dann geschieht, glaubt Sami zunächst nicht. Der Mann gibt ihm nicht nur das ganze Leberwurstbrot, er lässt ihn in seinem Auto mitfahren. Dies ist der erste Abend seit langem, den Sami nicht alleine verbringt. Er hat ab jetzt wieder einen Menschen, der sich um ihn kümmert.

Mika

5 s i c h t Weisen

Mika fühlte sich im Moment bombenstark. Er hat das Gefühl, dass er seinen Mitmenschen überlegen ist. Alles scheint glatt für ihn zu laufen. Die Schule hat er endlich hinter sich. Er hat den Abschluss zwar nicht geschafft. Ein Schulabschluss ist ihm aber gar nicht wichtig. Seiner Meinung nach liegt es außerdem nicht an ihm, dass er anstelle eines Abschlusszeugnisses nur ein Abgangszeugnis ausgehändigt bekommen hat. Die Lehrerin hatte ihn auf dem Kicker. Deshalb hatte er von Anfang an keine Chance. Mika ist froh, dass er diese Episode seines Lebens hinter sich hat. Seit ein paar Monaten arbeitet er abends in einer Bar in der Stadt. Hier verdient er sein eigenes Geld. Wofür er das Geld ausgibt, entscheidet Mika alleine. Keiner schreibt ihm etwas vor. Das Geld reicht nicht für eine eigene Wohnung. Er ist aber zuversichtlich. Neben dem Geld bekommt er Anerkennung: Wenn Not am Mann ist, springt er als Türsteher ein. Dann hat er eine Menge Macht. Er entscheidet, ob jemand Einlass ins Lokal bekommt oder nicht. Und er wird gerufen, wenn es ein Problem gibt. Mika sorgte dann dafür, dass die Problemmacher das Lokal verlassen. Er ist wichtig. Er hatte das Gefühl, dass für ihn im Moment das richtige Leben anfängt.

Mika hasst das kleine Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Er fühlte sich hier nie zugehörig. Schon als Kind hat er die hier geltenden Regeln nicht verstanden. Sogar seine Eltern waren der Meinung, dass die Dorfbewohner alles zu eng sehen und engstirnig sind. Mikas Eltern wohnen in dem Dorf, weil ein Haus in der Stadt teurer ist. Sie interessierten sich nie für die Umgebung oder die Natur und erst recht nicht für die Menschen, die hier leben. Als Grundschulkind hat Mika sich für seine Umgebung interessiert. In der Nachbarschaft wohnte ein Mädchen, das zusammen mit ihm eine Schulkasse besuchte. Der Name der Klassenkameradin war Janine. Ihre Mutter und ihr Vater joggten oft. Und sie unternehmen mit ihrer Tochter zusammen Radtouren. Das gefiel Mika. Seine Eltern hatten gar kein eigenes Fahrrad. Er selbst hatte zwar ein Rad. Dieses hatte aber immer irgendein Problem. Einmal war er bei Janine zu Besuch. Er fuhr mit seiner Freundin mit dem Rad. An dem Tag funktionierten die Bremsen an Mikas Fahrrad nicht. Deshalb stoppte er manchmal nicht rechtzeitig und fuhr gegen eine Wand oder eine Mauer. Mikas Klassenkameradin fand das lustig. Als Janines Vater an diesem Tag von der Arbeit nach Hause kam, schlug er vor mit dem Rad in den Nachbarort zu fahren. Es war herrliches Wetter. In dem Nachbardorf gab es eine Eisdiele, die leckeres Eis selbst herstellt. Hier schlug Janines Vater vor, ein Eis zu essen. Alle waren sofort begeistert. Die Mutter von Mikas Freundin legte die Route fest. Auf dem Hinweg plante sie, einen hubbeliger Feldweg zu befahren. Der Weg führt bergab und er hat viele Schlaglöcher. Es macht Spaß, diesen Weg mit dem Rad schnell hinunter zu rasen. Das letzte Stück auf dem Radweg bat Janines Mutter darum, dass alle in einer Reihe hintereinander her fahren. Hier ist mehr Verkehr und Sicherheit ist der jungen Frau wichtig. Sofort nach dem Losfahren hatte Mika das erste Problem. Er bremste nicht schnell genug, als Janines Vater vor ihm seine Geschwindigkeit verringerte. Dieser wunderte sich und schaute sich das Rad an. Er merkte schnell, dass die Bremse nicht korrekt eingestellt war. Sofort korrigierte er diese Einstellung. Das passende Werkzeug hatte er in der Satteltasche am eigenen Rad. Mika war begeistert. War das so unkompliziert. Sein Vater hatte bisher keine Zeit, um ihm bei dem Problem mit dem Fahrrad zu helfen. Jetzt, wo die Bremse funktionierte, fühlte er sich sicherer. Die Fahrt bergab auf dem Feldweg ist lustig. Als die vier Radfahrer auf dem Radweg ankommen, hatte Mika keine Lust hintereinander her zu fahren. Das ist in seinen Augen langweilig. Er schert aus. Janine findet das Ausscheren lustig und macht es ihm nach. Die beiden fahren um die Wette und überholen sich immer wieder gegenseitig. Janines Mutter ermahnt die Kinder. Aber keiner hört auf die tadelnde Frau. An einer Kurve wäre es fast passiert. Ihnen kommt ein Rentnerehepaar auf E-Bikes entgegen. Für ihre Verhältnisse sind die beiden Rentner zu schnell. Sie fahren aber korrekt auf der richtigen Fahrbahnseite. Mika fährt auf der falschen Seite. Aufgrund der Kurve sieht er die beiden Rentner erst spät. Im letzten Augenblick weicht er aus. Mika findet die Situation lustig. Es ist ja nichts passiert. Das Rentnerehepaar sieht das anders. Die Frau hat sich zu Tode erschrocken. Sie schimpfte lautstark. Janines Mutter, die am Ende der Gruppe fährt, bekommt die meisten Vorwürfe ab. Aber das nimmt Mika nur am Rande wahr. Er ist an der Spitze der Gruppe und hat Spaß. Er versteht nicht, warum Janines Mutter beim Eisessen nicht mehr so freundlich zu ihm ist und ihn bei der nächsten Radtour nicht mehr mitnimmt. Sie ist ihm nicht mehr wohlgesonnen. Es passiert ihm öfter, dass man ihn von heute auf morgen anders behandelt. Mika ist der Meinung, dass er keinen Einfluss darauf hat, ob Menschen ihn freundlich behandeln oder nicht. Dies hat er schon im Kindergarten so erfahren.

Im Kindergarten gab Mika sich am Anfang Mühe, anderen Menschen zu gefallen. Damals glaubte er, dass er die gleichen Chancen hat, wie jedes der anderen Kindergartenkinder. Bei einem Ausflug beobachtete er einmal, wie eines der beliebten Kinder eine Kartoffel auf einem Kartoffelfeld ausbuddelte. Der Erzieherin hat das gefallen. Sie lobte das Kind. Ihrer Meinung nach war das beliebte Kind schlau, weil es Kartoffelpflanzen kannte. Mika merkte sich das. Als er ein Jahr später in der Grundschule war, führte ein Wandertag an einem Kartoffelfeld vorbei. Er erkannte die Pflanzen sofort. Er buddelte eine Kartoffelpflanze aus und plante, das Gewächs seiner Lehrerin zu zeigen. Mika war der Überzeugung, dass diese ihn loben wird, so wie damals die Kindergärtnerin das andere Kind gelobt hat. Die Lehrerin würde sicher beeindruckt sein, wenn sie erkennt, dass Mika Kartoffelpflanzen kennt. Es war ihm wichtig, dass die Lehrerin bemerkt, wie schlau er ist. Aber schon am Gesichtsausdruck der Frau erkennt er, dass diese nicht froh mit ihm ist. Als er freudestrahlend mit der Kartoffelpflanze in der Hand auf sie zulief, schimpfte sie nur. Die Grundschullehrerin war – anders als die Erzieherin damals im Kindergarten – der Überzeugung, dass man Pflanzen nicht ausbuddelt. Im Falle von Kartoffeln kommt ihrer Meinung nach hinzu, dass es sich um Lebensmittel handelt, die man nicht leichtfertig zerstört. Mika ist in den Augen der Lehrerin nicht dankbar dafür, dass er genug zu essen hat. Der Junge verstand damals die Welt nicht mehr. Er war sich so sicher, dass er etwas Gutes ausführte. Die Rückmeldung der Lehrerin zeigte ihm aber, dass er sich falsch verhalten hat. Als er an diesem Tag nach Hause kam, war er traurig. Er erzählte seinen Eltern abends von dem Vorfall. Mika hatte beim Erzählen den Eindruck, dass die Mutter ihn nicht verstand. Sie schaute fern und fühlte sich offensichtlich gestört. Die Störung war ihr nicht recht. Der Einzige, der ihn ein bisschen ablenkte, war sein Vater. Dieser erklärte ihm, dass die Lehrerin blöd ist. Er empfahl ihm, heute Abend an etwas anderes zu denken. Mikas Papa liebt laute Klänge und lenkte sich selbst mit Musik von unguten Gedanken ab. Er suchte eine CD heraus und drehte den Ton laut. Das brachte Mika dazu, an diesem Abend nicht mehr an seine Probleme zu denken. Nur die Mutter war sauer, weil sie den Ton des Fernsehers nicht mehr verstand – so fiel es ihr schwer, ihrer Serie weiter zu verfolgen. Sein Vater lachte nur über die empörte Frau. Mika fand dies lustig. In dem Moment genoss der Junge es, sich mit seinem Papa so verbunden zu fühlen. Am nächsten Tag in der Schule war Mika aber wieder genauso verunsichert wie am Vortag. Er wusste nicht was richtiges und was falsches Verhalten ist und es gab niemanden, der ihm das erklärte. Während seiner Schulzeit führte er deshalb öfter Aktionen durch, die anderen nicht gefielen. In der Grundschule handelte er unbewusst. Später verhielt er sich oft bewusst nicht regelkonform, weil es ihm mehr Spaß bereitete und er sich sicher war, dass die Lehrer ihn nicht netter behandeln, wenn er sich regelkonform verhält. Es bringt ihm keine Vorteile, wenn er sich an Regeln hält. Vorteilhaft ist es, gegen diese zu verstoßen. Bei seinen Freunden gewann er an Beliebtheit, wenn er Regeln brach. Mika macht in der Schulzeit nie die Erfahrung, dass man sich verstanden und zugehörig fühlt, wenn andere Menschen einen nett behandeln und Verständnis und Mitgefühl zeigen, weil es nie passierte. Später wird er einmal erfahren, wie es ist, wenn ein Mensch sich in ihn hineinfühlt und ihm gegenüber Entgegenkommen zeigt.

Kurz vor Mikas Schulabgang zog sein Vater zuhause aus. Der Junge hatte schon mehrmals mitbekommen, dass seine Eltern sich streiten. Dass sein Vater zu Hause auszieht, hat er aber nicht erwartet. Mika hat keine Vorstellung davon, wie es weitergeht. Bisher hat sein Papa immer alles geregelt. Seiner Mama traut er nicht zu, alleine ihr Leben zu meistern. Und so ist es. Mikas Mutter schafft es schon nach kurzer Zeit nicht mehr, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Ihr steht staatliche Hilfe zu. Aber seine Mutter weiß nicht, wie sie für sich selbst und ihre Restfamilie die notwendige Unterstützung beantragt. Mika ist froh, dass er bald nicht mehr seine Zeit in der Schule verbringt. Dann hat er mehr Zeit für sich selbst zu sorgen. Er arbeitet im Moment ja schon in einer Bar. Als er an einem Abend nach Hause kommt, sitzt ein Fremder bei ihnen am Esszimmertisch. Dieser hilft seiner Mutter beim Ausfüllen von Formularen. Weil Mika hungrig ist, setzt er sich mit einem Brot zu den beiden an den Esszimmertisch. Dabei erfährt er, dass seine Mutter diese Formulare ausfüllt, damit sie Geld bekommt. In Mika steigt Selbstbewusstsein auf. Er füllt keine Anträge aus, um Geld zu bekommen. Er ist einen Schritt weiter als seine Mutter. Er hat den Schulabschluss nicht geschafft, aber er ist nicht mehr schulpflichtig und hat mehr Zeit in der Bar zu arbeiten. Mit hoch erhobenem Kopf erzählt er dem Mann, dass er sein eigenes Geld verdient. Der Fremde reagiert nicht mit Hochachtung. Mika hat das Gefühl, dass es dem Mann nicht gefällt, dass er in einer Bar arbeitet. Das wundert den Jungen nicht. Er ist es von Anbeginn seines Lebens an gewöhnt, dass andere Menschen nicht so reagieren, wie er es erwartet. Er findet heute wieder keine Erklärung. Er schließt sich in seinem Zimmer ein und schalte die Stereoanlage an. Gott sei Dank gibt es ein paar wenige Menschen, die auf einer Wellenlänge mit ihm sind. Beispielsweise Mikas Freundin Jaqueline. Das Mädchen betet ihn an.

Mit seiner Freundin zusammen unternimmt Mika das, wozu er Lust hat. Ihr gefällt alles. Er hat Jaqueline an einem Abend in der Bar kennengelernt, in der er arbeitet. In dieser Nacht war in der Bar eine Menge los. Eine Clique von Jugendlichen feierte einen Geburtstag und dabei kam Streit auf. Mika hatte an diesem Abend die Rolle des Türstehers übernommen. Er sorgte bei der Auseinandersetzung für Ordnung unter den Jugendlichen. Dies erledigte er zur vollsten Zufriedenheit seines Chefs. Mika trat kurz selbstbewusst auf und drohte lautstark mit Prügel - schon war der Streit beigelegt. Jaqueline war eine der Jugendliche. Sie war nicht direkt in die Auseinandersetzung verwickelt. Aber die Streitenden waren ihre Freunde und deshalb verfolgte sie die Streitschlichtung genau. Mika imponierte ihr. Seit diesem Tag sind die beiden ein Paar. Jaqueline ist schlank und bildhübsch. Viele von Mikas Freunden beneiden ihn wegen seiner begehrenswerten Freundin. Jaqueline ist ihm wichtig. Er unternimmt alles, um er sie auf keinen Fall zu verliert. Er bemüht sich um sie und bietet ihr immer wertvollere Dinge. Mika ist nicht klar, dass eine Beziehung keinen Wert hat, wenn man sie sich erkauft. Deshalb wird er zu einem späteren Zeitpunkt fast einen großen Fehler begehen.

An einem Abend sitzen Mika und Jaqueline auf einer Bank in der Nähe des Dorfes, in dem der Junge wohnt. Von hier aus ist es möglich, den Sonnenuntergang zu beobachten. Mika hat vorher bei einem Schnellrestaurant etwas Leckeres gekauft. Dazu trinken die beiden Bier. An diesem Abend werden die zwei Jugendlichen von einem Mann bei ihrer Romanze gestört. Der Mann hat sein Auto in der Nähe geparkt. Das Auto ist Mika aufgefallen. Er merkt sich jedes Autos. Er war sich sicher, dass er dieses Auto vorher schon einmal gesehen hat. Als er den Mann sieht, weiß er, wo ihm das Auto aufgefallen ist. Der Mann hat seiner Mutter vor kurzem beim Ausfüllen von Formularen geholfen. Der Mann scheint sich an ihn zu erinnern. Beim Vorbeigehen hält er kurz an und grüßt Mika und Jaqueline. Dann erklärt er ihnen, warum Müll in der Natur gefährlich für wild lebende Tiere ist. Den Teenager interessiert das überhaupt nicht. Jaqueline hört sich aber alles mit konzentriertem Blick an. Sie scheint sich für den Mann und das Thema zu interessieren und stellt ihm weitere Fragen. Während des Gespräches holt der Mann eine Kamera aus seiner Tasche und zeigt den beiden ein Foto. Auf dem Foto erkennt Mika eine Getränkedose und einen toten Igel. Der Igel hatte seine Schnauze zu tief in diese Dose hineingesteckt und sich so selbst gefangen. Es war ihm nicht mögliche, wieder aus der Dose hinaus zu kriechen. So ist er in der Dose jämmerlich zu Tode gekommen. Mika hasst solche Gefühlsduseleien. Er ist froh, als der Mann endlich in sein Auto steigt und wegfährt. Außerdem ist es ihm nicht geheuer, dass Jaqueline den Mann allem Anschein nach sympathisch findet. Insbesondere die Kamera des Mannes hat seine Freundin beeindruckt. Das Mädchen fotografiert ebenfalls gerne. Mika hat keine Ahnung von Kameras. Er nimmt Fotos ausschließlich mit seinem Smartphone auf. Deshalb wundert er sich, als Jaqueline ihm erzählt, dass eine solche Kamera ein Traum für sie ist. Die Spiegelreflexkamera kostet eine Menge Geld. Als das Mädchen weiter von Brennweite und Blendenzahl schwärmt, folgt Mika ihr gedanklich nicht. Seine Gedanken sind woanders. In ihm wächst eine Idee.

Seitdem Mika die Schule nicht mehr besucht, hat er tagsüber Zeit. In dieser Zeit fährt er oft mit seinem Zweirad durch die Gegend. Er liebt es, querfeldein zu fahren. In dem Wald, der an den Ort grenzt, in dem er wohnt, ist eine Schiefergrube. Heute wird in dieser Grube nichts mehr abgebaut. Das Abbaugebiet wurde schon vor 100 Jahren stillgelegt. Die Hänge sind aber weiterhin vorhanden und auf dem Schiefer bildet sich nur ein kärglicher Bewuchs. Für Mika ist dieses Gebiet das ideale Areal, um mit seinem Zweirad Spaß zu haben. An einem Tag hat er ein nicht alltägliches Erlebnis. Als er einen Abhang hinunterfährt, sieht er, wie ein braunes Tier aufspringt. Zuerst dachte Mika, dass er einen Fuchs aufgeschreckt hat. Später merkte er aber, dass es ein Hund war, der sich in der Grube versteckt hatte. Als Mika dann mit seinem lauten Gefährt immer näher auf das Versteck zusteuerte, entschied sich der Hund im letzten Moment zu flüchten. Das war ein gefundenes Fressen für Mika. Er suchte schon länger eine andere Herausforderung. Alleine in der Grube herumzufahren macht auf Dauer keinen Spaß. Der junge Motorradfahrer nahm sofort die Verfolgung des Hundes auf. Der Hund lief um sein Leben. Am Anfang hatte Mika es schwer dem Hund zu folgen. Das Tier lief deutlich schneller und flinker die Schieferhänge hinauf. Dann passierte dem Tier aber ein entscheidender Fehler. Es peilte den Waldweg an, der aus der Schiefergrube heraus führt, und lief auf diesem Weg dann weiter Richtung Dorf. Als Mika endlich das Grubengebiet verlässt und am Waldweg ankommt, hat der Hund einen großen Vorsprung. Auf dem Weg holt Mika aber schnell einige Meter auf. Er kommt langsam immer näher an das braune Tier heran und überlegt, was er mit dem Tier anstellt, wenn er es eingeholt hat. Das Tier durchkreuzt dann aber Mikas Überlegungen. Als es die Stelle erreicht, an der Waldweg direkt unterhalb einer Asphaltstraße liegt, läuft es querfeldein durch den Wald zur Straße hoch. Mikas Zweirad ist für das Befahren dieses Abhangs nicht ausgelegt. Dazu ist das Gebiet zu steil und zu dicht bewachsenen. Deshalb nimmt der Junge einen Umweg in Kauf. Als er die Asphaltstraße auf dem normalen Weg erreicht, ist die Hündin nicht mehr zu sehen. Mika ist ein bisschen enttäuscht. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich eine neue Beschäftigung zu suchen. Dabei hat ihm das Jagen des Hundes so gefallen. Er fährt weiter in Richtung Dorf. Auf dem Weg sieht er den Mann, der seiner Mutter beim Ausfüllen der Formulare geholfen hat, auf der Bank sitzen. Er macht einen großen Bogen um die Bank. Er hat keine Lust wieder einen Vortrag über ein Umweltthema über sich ergehen zu lassen. In seinem Kopf spinnt er aber die Idee weiter, die vor kurzem in ihm aufkeimte. Er beobachtet den Mann genau. Dieser isst etwas. Dabei steht seine schwarze Kameratasche offen hinter der Bank. Der Mann hat keine Angst, dass ihm jemand die Tasche mit der teuren Kamera im Vorbeigehen stiehlt. An die Rückseite der Bank grenzt eine Böschung, die hoch zur Straße führt. Hier wachsen wilde Sträucher und anderes Buschwerk kreuz und quer nebeneinander her. Mika kennt das Gebiet. Auf der einen Seite neigt die Böschung sich. Sie endet in einer Senke, in der ein kleiner Bach fließt. Der Bach mündet in ein Rohr, das unter der Straße hindurch führt. Als Kind ist Mika ein paar Mal durch dieses Rohr gelaufen. Er ist kein Kind mehr. Als ausgewachsener Jugendlicher wird es ihm höchstwahrscheinlich schwerer fallen, durch das Rohr auf die andere Straßenseite zu gelangen. Mika versucht es heute wieder. Gebückt ist es kein Problem für ihn, durch das Rohr hindurch zu kriechen.

Manchmal hat man Glück, denkt Mika, sich als er ein paar Tage später auf der Straße in der Nähe der Bank mit seinem Zweirad fährt. Heute sitzt der Mann mit der Kamera wieder auf der Bank. Er hat die Tasche hinter der Bank abgestellt. Wenn Mika sich rückwärtig anschleicht, merkt der Mann es nicht, wenn er ihm die Kamera aus der Tasche entwendet. Mika verschwendet keine Zeit. Er stellt sein Zweirad hinter der Leitplanke am Straßenrand der, der Bank gegenüberliegenden Straßenseite, ab. Dann klettert er auf seiner Seite die Böschung bis zum Bach hinunter. Hier schleicht er weiter bis zum Eingang des Rohres und dann kriecht er durch das Rohr hindurch auf die andere Straßenseite. Den folgenden schwierigen Teil meistert er mit Bravour. Mika grabbelte die Böschung vorsichtig hinauf, bis er die Bank sieht. Die Tasche steht wie erwartet geöffnet hinter dem Mann und der Mann sitzt bewegungslos auf der Bank. Mika nimmt all seinen Mut zusammen und schleicht im Schutz der Pflanzen bis kurz hinter die Bank. Hier greift er in die Tasche und entwendet die Gegenstände, die zuoberst liegen. Er fühlt zwei Teile in seinen Händen. Er hat aber keine Zeit zu kontrollieren, um was es sich genau handelt. Er vertraut darauf, dass eines dieser Teile das Richtige ist! Er macht sich leise auf den Rückweg. Auf dem Weg durch die dicht bewachsene Böschung nach unten traut er sich kaum zu atmen. Er fühlt, wie sein Herz schlägt. Er ist froh, als er am Eingang des Rohres angekommen ist. Im Rohr atmet er dann erst einmal tief durch. Früher hatte er etwas Angst, durch dieses Rohr hindurch zu robben. Heute sieht er es fast als eine Art Schutz an. Langsam kriecht er gebückt im seichten Bachwasser auf die andere Straßenseite. Am Ziel angekommen sieht er sich kurz an, was er erbeutet hat. Dabei wird er jäh unterbrochen. Schon als er aus dem Rohr heraus kam, hörte er etwas über sich. Zuerst vermutet er, dass er ertappt worden ist und der Mann den schnelleren Weg über die Straße gewählt hat, um seine Kamera wiederzubekommen. Dem ist nicht so. Er sieht, dass sein Zweirad die Böschung hinunterfällt und danach nimmt er einen braunen Hund wahr, der vor dem Zweirad herläuft, abrupt stoppt und verängstigt auf dem Boden liegen bleibt. Mika braucht ein paar Sekunden, um dies alles zuzuordnen. Aber schon bevor er die Ereignisse versteht, passiert das nächste Unerwartete. Hinter sich hört er im Rohr einen Hund laut bellen. Mika merkt, wie Panik in ihm aufsteigt. Der bellende Hund kommt aus dem Rohr hinaus. Das Tier ist schwarz und bleibt am Eingang des Rohres zurück und bellt. Der Hund macht keinen gefährlichen Eindruck. Mika atmet erleichtert auf. Er hat den Wunsch, so schnell wie möglich zu seinem Zweirad zu gelangen, mit dem er dann von hier entflieht. Aber dann passierte schon wieder etwas, mit dem Mika nicht gerechnet hat. Er entdeckt eine Frau aus dem Ort. Die Frau läuft querfeldein über ein Feld auf das Gebüsch zu, in dem er feststeckt. Mika überlegt, wie er verhindert, dass die Frau ihn entdeckt. Er weiß aber nicht wie. Vor dem Rohreingang steht der schwarze Hund und bellt. Vor seinem Zweirad liegt die braune Hündin und knurrt. So bleibt Mika reglos in der jetzigen Position. Er hat keine bessere Idee. Als Nächstes sieht er, wie die Frau zielstrebig auf den braunen Hund zugeht, der vor dem Zweirad liegt. Die Frau redet kurz mit dem Hund und eilt dann mit ihm in Richtung Straße davon. Nur kurz wirft die Frau einen erstaunten Blick auf Mika und den schwarzen Hund. Der Junge erwartete, dass die Frau ihn als Dieb ertappt und ihn beschimpft. Deshalb ist er erstaunt, dass er so glimpflich davon gekommen ist. Aber sein Erstaunen hält nicht lange. Als er sich zum erneuten Male zu seinem Zweirad hoch bewegt, hört er schon wieder etwas. Das Geräusch kommt aus dem Rohr. Mika grenzt die Laute schnell ein. Ein weiterer Mensch kriecht durch das Rohr. Es handelt sich um den Mann, dessen Kamera er vor ein paar Minuten entwendet hat. Der Mann schimpft in einer Art Selbstgespräch auf einen Hund. Als Nächstes sieht er den Mann aus dem Rohr herauskommen. Der Mann guckt überrascht, als er den Jungen entdeckt. Mika glaubt, dass jetzt alles vorbei ist. Er hat verloren, so meint er. Er hält dem Mann die beiden Gegenstände entgegen, die er aus der Tasche gestohlen hat. Dabei sagt er, dass er die Kamera für seine Freundin genommen hat. Er hat Angst vor dem, was als Nächstes kommt. Aber es wird gar nicht so fürchterlich, wie er es erwartet. Der Mann nimmt die Gegenstände und scheint erleichtert zu sein. Er sagt ein paar Dinge zu Mika. Der Dieb erinnert sich später nur an wenige Worte. Aber er merkt deutlich, dass der Mann Mitleid mit ihm hat und ihm keine weiteren Probleme in Form von einer Anzeige bei der Polizei bereiten wird. Der Mann fragt Mika, ob er gerne in einer Welt lebte, in der andere ihm Dinge wegnehmen, die ihm etwas bedeuten. In einer solchen Welt würde Mika nur ungern leben. Es gibt Menschen und Gegenstände, die ihm wichtig sind und er ist froh, dass ihm bisher nur selten jemand etwas davon weggenommen hat. Für Mika ist dies das erste Mal, dass er sich in einen anderen Menschen hineinversetzt. Die Kamera war dem Mann wichtig. Mika kennt bisher nur seine eigene Sicht auf die Dinge der Welt, und wenn einmal etwas nicht zu dieser Sichtweise passt, dann dreht er die Musik laut auf. Bisher war er der Überzeugung, dass es anderen egal ist, was er fühlt. Deshalb erlaubte er sich ebenfalls, auf die Gefühle seiner Mitmenschen keine Rücksicht zu nehmen. Der Mann erklärt ihm aber, dass es ihm nicht egal ist, was Mika fühlt und das er Mitleid mit ihm hat. Er wird ihn nicht bei der Polizei anzeigen, damit er keine weiteren Probleme bekommt. Im Gegenzug wünscht er sich von Mika, dass dieser die Gefühle seiner Mitmenschen respektiert. Der Mann nimmt am Ende des Vortrags die Frischhaltebox mit dem Leberwurstbrot und die Kamera und humpelt mit dem schwarzen Hund zusammen über die Straße zurück auf die andere Straßenseite. Mika bleibt alleine. Lange denkt er über das, was in den letzten Minuten passiert ist, nach. Er ist dem Mann dankbar dafür, dass dieser ihn nachsichtig behandelt hat. So etwas ist ihm bisher nie vorgekommen. Mika bereut es, dass er den Mann bestohlen hat. Beschämt wird ihm klar, dass er das nachsichtige Verhalten des Mannes nicht verdient hat. Er plante, dem Mann etwas Böses anzutun. Der Mann hat es ihm aber nicht heimgezahlt – im Gegenteil. Er hat sich sogar Zeit für ihn genommen. Bisher hat Mika sich eher an rücksichtslosen Menschen orientiert. Auf dem Heimweg nimmt Mika sich vor, in Zukunft Mitmenschen wie diesen Mann als Vorbild zu wählen. Er wünscht sich, dass die Menschen in seiner Umgebung genauso über ihn denken, wie er über den Mann denkt. An diesem Wunschziel wird er ab heute arbeiten.

Roland

5 s i c h t Weisen

Roland ist einer von den Menschen, die keine Fehler begehen. Zumindest sieht er sich selbst so. Wenn alle so wie er lebten, dann gäbe es weniger Problem. Roland ist felsenfest davon überzeugt, dass nur seine Sicht auf die Dinge dieser Welt die richtige Sichtweise ist. Er hatte Glück, die wesentlichen Werte von den Eltern vorgelebt zu bekommen. Seine Mutter und sein Vater lebten ohne Laster. Sie hinterfragten alles und teilten die Welt in Gut und Böse ein. In der Familie war es wichtig, jederzeit auf der Seite der Guten zu stehen. Sie lebten fehlerfrei. So aufgewachsen war es für Roland immer klar, dass er in Ordnung ist und, dass er auf der richtigen Seite im Leben steht. Mit Ende 30 lebt er alleine. Er hatte nie eine feste Lebensgefährtin. Er wohnt in einer komfortablen Wohnung. Einmal behauptete ein Freund, dass er keine Beziehung eingeht, weil er Angst vor einem Fehler hat. Roland hingegen beharrt darauf, dass er bewusst unabhängig und frei lebt und dies sein Wunsch ist. Jeder Mensch hat seiner Meinung nach die Möglichkeit unabhängig und frei zu sein. Nur so lebt man sein Leben. Im Falle von Roland bedeutet dies nicht, dass er nur an sich denkt. Er hilft anderen Menschen gerne und oft. Er engagiert sich ehrenamtlich in der Kirche. Erst letzte Woche verbrachte er einen Abend damit, einer alleinerziehenden Mutter beim Ausfüllen von Formularen zu helfen. Ihre Ehe war erst vor kurzem zerbrochen und bisher hatte ihr Mann die Finanzen für die Familien geregelt. Er hatte Mitleid mit der Frau. Sie wirkten so hilflos. Er schämte sich, wenn er so unselbstständig wäre. Er unternimmt alles, um es zu vermeiden, dass er in eine solche Lage gerät. Ihm ist es wichtig, dass er seine Pflichten erfüllt, wenn er eine Verantwortung übernommen hat. Deshalb überlegt er vorher bis ins kleinste Detail, ob er eine Beziehung eingeht oder eine Pflicht übernimmt. Meist verhindert er es, von irgendetwas abhängig zu sein – nicht von einer Frau, nicht von einer Familie und erst recht nicht von einem Tier. In der Verwandtschaft der alleinerziehenden Frau liefen mehrere Dinge falsch. Zum Beispiel erzählte der älteste Sohn der Frau, dass er von der Schule geflogen ist. Er schämte sich nicht. Mit hocherhobenem Kopf und Stolz in der Stimme erzählte er, dass er jetzt in einer Bar arbeitet. Roland versucht, mit dem Jungen zu reden. Dieser ist 19 Jahre alt. Er hatte das ganze Leben vor sich. Roland erklärte ihm, dass es wichtig ist, Dinge zu lernen. Nur mit offenen Augen und genügend Wissen führt man sein Leben bewusst. Rolands Worte kamen aber nicht bei dem Jugendlichen an. Der achtsam lebende Mensch gab das Reden schnell auf. Er sammelte in der Vergangenheit schon öfter die Erfahrung, dass bei diesem Schlag Mensch Hopfen und Malz verloren ist. Manche Mitmenschen sind seiner Meinung nach so sorglos, dass sie ihre Misere selbst gar nicht erkennen. Das ist fast schon wieder beneidenswert. Aber Roland beneidet solche Menschen nicht. Ihm ist zwar klar, dass der Junge mit seiner Situation zufrieden ist. Er erleichtert sich das Leben aber auf Kosten anderer – das ist Rolands Meinung. Der Junge hat ein neues Motorrad und eine gutaussehende Freundin. Manche Menschen sind mit so wenig froh. Sie sehen nicht weiter. Roland versteht das nicht. Schon als Kind teilte er die Welt in Gut und Böse ein. Jemand der von der Schule flog, gehörte zu den Bösen. Er selbst zählte sich seit der Grundschule zu den Guten. Er war ein gelehriger und folgsamer Schüler. Er hatte schon damals den Überblick und wusste, was falsch ist und was erlaubt ist. Dieser Junge weiß mit 19 Jahren nicht, was wichtig im Leben ist. So wie in der Grundschule teilt Roland heute als Erwachsener die Menschen ein. Dieser Junge gehört in die Schublade mit den Mitmenschen, mit denen er nicht gerne Umgang hat. Personen wie ihn meidet er. So lebt Roland sein Leben. Er hilft, wenn man ihn um Hilfe bittet. Zu seinen Freunden zählt er aber ausschließlich Menschen, die wie er, bewusst leben und nachdenken – Mitmenschen, denen es wichtig ist, dass sie Fehler vermeiden.

In diesem Spätsommer nimmt Roland sich Zeit zum Beobachten von Vögeln. Immer häufiger werden Exemplare des seltenen Mornellregenpfeifers auf ihrem Vogelzug zwischen Nordeuropa und Nordafrika in der Gegend gesichtet. Weil er nur einige wenige Tage im Jahr hier vorkommt, ist der Anblick eines Mornells für ihn als Vogelkundler ein seltenes Ereignis. Entsprechend enthusiastisch würde er sich über eine Sichtung freuen. Das Tüpfelchen auf das I wäre es, wenn ihm ein Foto gelänge. Eines, das nicht nur Seltenheitswert hat. Es wäre ideal, wenn das Bild eine problematische Situation darstellte. Mit einem derartigen Foto erregte er Aufmerksamkeit. Ein Grund zum Freuen ist ein solches Foto bei genauer Betrachtungsweise nicht, denn Roland ist folgendes klar: Der Mornellregenpfeifer lebt die meiste Zeit im Jahr im nördlichsten Teil Europas. Dort wo Kälte, Eis, Schnee und Wind der Landschaft ihren Stempel aufdrücken. Auf den ersten Blick erscheint es deshalb unverständlich, dass dieser Vogel sich auf seiner langen Wanderung ausgerechnet die fruchtbare Gegend in der er wohnt, als Zwischenstation aussucht. Er bevorzugt ja eher karge und lebensfeindliche Gebiete. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die intensive landwirtschaftliche Nutzung in seiner Umgebung in den letzten Jahren zum gleichen Ergebnis geführt hat, wie Dauerfrost und Wind in der Tundra. Nach der Ernte im Spätsommer findet der Mornellregenpfeifer in seiner Gegend die steppen- und halbwüstenartigen Lebensräume, die dieser Vogel aus Sibirien kennt. Die Landschaft ist ihm vertraut. Deshalb fühlt er sich für die kurze Zeit seiner Zwischenstopps hier heimisch. Roland informiert sich stets genau. Er macht es sich nicht leicht und betrachtet solche Dinge jederzeit von zwei Seiten. Deshalb ist ihm klar, dass die hier ganzjährig vorkommenden Tiere und Pflanzen mit der künstlich geschaffenen Agrarsteppen nicht zurechtkommen. Sie haben in den streng nutzenorientierten Produktionsflächen, mit nur wenigen Hecken und Ackerrainen, keinen Platz mehr. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet bringt ihn jeder Fund des Mornells in seiner Region zum Nachdenken. Und Roland denkt reichlich und präzise nach. Er hat es bisher leider nie geschafft, ein bemerkenswertes Regenpfeifer-Foto aufzunehmen. Dabei hätte er so gerne einen gelungen Schnappschuss. Es wünscht sich ein Bild, das die Aufmerksamkeit von Betrachtern erregt. Roland hat sich zum Ziel gesetzt, auf das Dilemma hinzuweisen. Er hat das Ziel, seinen Mitmenschen die Augen zu öffnen für den Raubbau, den die lokale Landwirtschaft betreibt. Ihm ist wichtig, dass alle erkennen, dass die Natur in der Umgebung gefährdet ist. Viele seiner Freunde im Naturschutzbund freuen sich über jede Vogelbeobachtung. Sie denken nicht so weit wie er. Ein Foto als Hingucker würde seine Aktion positiv beeinflussen. Ein Foto von einem Mornell wäre ideal. Dieser Vogel erregt die Aufmerksamkeit seiner Freunde beim Naturschutzverein. Ein solches Foto ist bisher nicht vielen gelungen. Er würde eine Zeitlang im Mittelpunkt stehen und Roland hätte die Gelegenheit, anderen seine Befürchtungen zu verdeutlichen. Deshalb nutzt er in diesem Spätsommer jede Gelegenheit, um einen solchen Vogel mit seiner Kamera einzufangen.

Roland genießt die Zeit, die er mit Vogelbeobachtungen in der Natur verbringt. Insbesondere dann, wenn das Wetter passt. Und in diesem Jahr ist es Ende August sommerlich warm und trocken. Die Stelle, an der im letzten Jahr ein Mornell gesichtet wurde, ist einer von Roland Lieblingsplätzen. Es handelt sich um eine Hochlage mit weitem Ausblick. In der Nähe dieser Anhöhe ist das seltene Tier im letzten Jahr herunter gekommen. Hier entspringt versteckt zwischen Büschen eine Quelle. Diese Stelle kennt fast niemand. Es ist quasi ein Geheimtipp. Neben der Quelle führt eine Straße entlang. Das Wasser, das hier entspringt, wurde beim Bau der Landstraße durch ein Rohr unter dieser hindurch geleitet. Das Rohr ist damals groß gewählt worden. Ein Mensch kriecht problemlos in gebückter Haltung durch das Rohr unter der Straße hindurch. An trockenen Tagen ist es nicht vorstellbar, dass das Rohr einmal vollständig gefüllt wird. Wenn es regnet, sammelt sich hier das Wasser aus allen Richtungen. Dann ist der Bach so gefüllt, dass das Rohr ausgenutzt wird und ein Mensch nur schwimmend durch das Rohr auf die andere Straßenseite gelangte. Zum Hindurchgehen ist dieses Rohr nicht konzipiert. Trotzdem hat Roland den Weg durch das Rohr schon das ein oder andere Mal genutzt.

Als Roland an einem Tag auf der Heimfahrt von der Arbeit wieder einmal an seiner Lieblingsstelle anhält, beobachtet er etwas Außergewöhnliches: Ein Schwarzstorch fliegt einige Minuten über ihm seine Bahnen. Die meisten Störche bereiten sich im August auf den Weg in ihre Winterquartiere vor. Sind die Vögel in ihren Brutrevieren gestartet, führt sie ihre Reise zunächst zu Sammelplätzen. Von ihren Sammelgebieten ausgehend fliegen die Tiere dann nach Afrika. Roland beobachtet hier einen einzelnen Schwarzstorch. Dieser ist vermutlich auf der Suche nach einem Sammelplatz. Der Schwarzstorch ist für Roland ein Vogel, dessen Anblick ihn mit Stolz erfüllt, weil sein Bestand in den letzten Jahren zunahm. So ist der Storch heute nicht mehr vom Aussterben bedroht. Dies ist auf die Arbeit seines Naturschutzvereines zurückzuführen. Dies motiviert Roland. Er ist zufrieden mit sich und der Welt. Auf dem Rückweg von seinem Standort mitten auf dem Feld trifft er ein junges Pärchen. Die beiden Jugendlichen sitzen auf einer Bank und essen Fastfood. Roland ist etwas enttäuscht. Er sitzt gerne auf dieser Bank und hatte vor, sich heute ebenfalls hier niederzulassen. Er plante, eine Weile die Natur zu genießen und sein mitgebrachtes Brot zu essen. Dies macht er immer, wenn er Zeit dazu hat. Roland hat aber keine Lust sich zu den zweien zu setzen. Zum einen stört er ungern. Außerdem erkennt er den Jungen wieder. Er hat ihn vor Kurzem kennengelernt, als er seine Mutter beim Bearbeiten von Anträgen unterstützte. Schon beim Kennenlernen war der Junge Roland auf Anhieb nicht sympathisch. Und heute fällt ihm der Teenager ebenfalls nicht positiv auf. Roland ist sicher, dass die Verpackung des Essens später von den beiden in der Natur entsorgt wird. Beweise hierfür hat er nicht. Er hat nie mit eigenen Augen gesehen, wenn jemand Bierdosen oder Packschachteln weggeworfen hat. Er hat aber schon eine ganze Menge Müll in der Umgebung dieser Bank gefunden und bei sich zu Hause entsorgt. Roland weiß, dass manchmal aus Unwissenheit falsch gehandelt wird und er lässt nichts unversucht. Deshalb spricht er das Pärchen freundlich an. Im Gespräch erklärt er den beiden Jugendlichen, wie gefährlich Müll für wild lebende Tiere ist. Der Junge guckt dabei gelangweilt. Das Mädchen wirkt aber interessiert. Roland ist froh, dass er das Gespräch gesucht hat. Er hat das Gefühl, dass er zumindest bei dem Mädchen etwas bewirkt. Er ist sich sicher, dass die junge Frau in Zukunft mit offeneren Augen die Natur betrachtet.

Ein paar Tage später hat Roland beim Beobachten kein Glück. Obwohl er eine Stunde hinter seinem Stativ steht und mit der Kamera den Himmel nah heranzoomt, sieht er ausschließlich Vögel, die in dieser Gegend häufig vorkommenden. Dafür hat er Glück mit der Bank. Die ist heute frei. Er freut sich darauf, hier den Abend in Ruhe ausklingen zu lassen. Die Abendstunden auf der Bank genießt Roland sogar dann, wenn nicht alles seinen Erwartungen entspricht. Als er an der Bank ankommt, hat er Hunger. Er freut sich darauf, sein mitgebrachtes Brot zu essen. Vorher betrachtet er kurz die heute aufgenommenen Fotos auf dem Display der Kamera. Er hat es sich angewöhnt, Bilder sofort zu löschen, die nicht gelungen sind. Roland hat gerne Ordnung. Außerdem ist es Verschwendung von Energie, wenn man Daten speichert, die man nicht benötigt. Roland sichert seine Fotos auf einem Server im Internet. Er weiß: Weltweit sind 25 Atomkraftwerke notwendig, um genügend Strom für das Netz der Netze zu produzieren. Der Verbrauch vieler IT-Unternehmen ist mit dem Strombedarf einer Stadt vergleichbar. Deshalb lädt Roland nur wichtige Fotodateien in den Datenspeicher. Er setzt sich auf die Bank und sortiert seine Fotos. Total vertieft in die Eindrücke, die die Kamera festgehalten hat, nimmt er plötzlich neben sich ein Geräusch wahr. Als er aufblickt, sieht er aus dem Augenwinkel, dass sich in seiner Nähe etwas Schwarzes schnell wegbewegt. Er wundert sich. Das ist doch sicher der arme Hund, dessen Besitzer sich im Moment nicht so recht um das Tier kümmern. Er sieht verwahrlost aus und genießt jede Streicheleinheit. Roland versteht so etwas nicht. Wenn man die Verantwortung für ein Tier übernimmt, dann ist es wichtig, dass man seine Pflichten erfüllt. Ein Tierbesitzer hat nicht das Recht, sein Tier zu vernachlässig – es ist wichtig, dass er sich kümmert. Wer diese Notwendigkeit nicht erfüllt, entscheidet sich besser von Anfang an gegen die Aufnahme eines Tieres. Er selbst würde nie ein Tier bei sich aufnehmen. Er sieht sich nicht in der Lage sicherzustellen, dass er das Tier zu jeder Zeit adäquat versorgt. Wenn man sich aber nur halbherzig um einen Hund kümmert, dann schadet man diesem mehr, als man ihm hilft. Wenn Roland so argumentiert, dann stellt er immer klar, dass er Mitleid mit den armen Straßenhunden hat. Er ist aber der Meinung, dass man einem Tier eher hilft, wenn man etwas gegen die unkontrollierte Vermehrung unternimmt. Deshalb spendet er jährlich Geld an eine Organisation, die Hunde in Südeuropa einfängt, kastriert und dann wieder in die Freiheit lässt. Roland glaubt nicht, dass man einem Hund hilft, der als Straßenhund in Südeuropa frei lebte, wenn man ihn einfängt und in Deutschland in ein Haus sperrt. Oder, wenn man sich am Ende gar nicht mehr um das Tier kümmert. Dieser arme schwarze Hund hat im Moment niemanden, der regelmäßig für ihn sorgt. Das Tier hat schon mehrmals abends mit ihm hier den Sonnenuntergang genossen. Roland hat den Hund gerne in seiner Nähe. Er guck treu und sieht mit den weißen Tupfen auf der Nase allerliebst aus. Ein paar Mal hat es Roland leidgetan, wenn er sich von dem Hund verabschiedete. Einmal hätte er ihn fast mit zu sich nach Hause genommen.

Just in diesem Moment ärgert Roland sich über den den Hund. Er stellt fest, warum der Hund heute nicht bei ihm geblieben ist. Als er in die Tasche greift, um sein Brot heraus zu nehmen, ist dieses verschwunden. Da hat der Schlawiner sein Brot gekaut. Roland gesteht sich ein, dass er dem Hund das Brot quasi vor die Schnauze gelegt hat. Er hat seine Tasche offen hinter sich stehen lassen. Das war mehr oder weniger eine Einladung für den hungrigen Hund. Demnächst passt Roland besser auf seine Sachen auf.

Den Vorsatz, besser auf seine Sachen aufzupassen, vergisst Roland schnell. Schon am nächsten Tag stellt er die Tasche wieder offen hinter der Bank ab, als er hier den Tag mit einem Sonnenuntergang abschließt. Er wird den heutigen Tag als besonderen Tag in Erinnerung behalten. Roland hat nicht mehr daran geglaubt, aber es ist ihm gelungen einen Monell mit seiner Kamera einzufangen. Das Foto ist perfekt. Der Vogel sitzt mitten auf einem kargen Feld und ringsherum ist keine lebende Pflanze zu sehen. Alles sieht karg aus. Im Hintergrund erkennt man einen Ort. Der Kirchturm des Ortes ist markant. Roland hat den perfekten Ausschnitt auf seinem Foto festgehalten. Zudem ist der Vogel ideal getroffen. Die Anzeige des Monell ist klar und scharf und der Gesichtsausdruck ist reizvoll. Roland glaubt sein Glück kaum. Schon auf dem Feld hat er das Bild mehrere Male genau in Augenschein genommen. Mit diesem Bild hat er die ideale Vorlage, um bei seinem nächsten Vortrag im Naturschutzverein für freie Flächen zu werben, die eine Art Oasen in der Agrarwüste bewirken. Die Landwirte werden aufgefordert, mehr Felder brach liegen zu lassen, so dass die einheimischen Tiere sich hier wieder heimisch fühlen. Roland ist zufrieden. Die Fotos, die er heute aufgenommen hat, sind für ihn so kostbar wie kein Foto vorher. Ein Foto des Monell wird Aufmerksamkeit in der Presse erregen und nicht in der Masse untergehen. Er wird die Menschen in Vorträgen zum Nachdenken anregen. Er packt seine Kamera sorgfältig in ihre Schutzhülle und legt sie neben die Brotdose in der Tasche ab. Er konzentriert sich auf den bevorstehenden Sonnenuntergang. Diesen wird er jetzt genießen. Dann ist der Tag perfekt. Er lehnt sich zurück und fühlt sich im Einklang mit der Natur. Als er ein Geräusch wahrnimmt, wird er aufmerksam. Da wird doch nicht schon wieder dieser Hund sein Brot stibitzen? Zu spät, als er aufschaut, sieht er etwas Schwarzes in den Büschen in Richtung Bach verschwinden. Roland ärgert sich nur kurz. An diesem Tag ist es ihm egal. Er gönnt dem schwarzen Hund das Brot. Heute hat er das perfekte Foto aufgenommen. Er greift in die Tasche, um seine Kamera hervorzunehmen. Er freut sich über das Foto und betrachtet es immer wieder. Aber was ist das? Der Fotoapparat ist nicht mehr da. Roland ist sich sogleich sicher, dass der schwarze Hund die Spiegelreflexkamera genommen hat. Sofort sprintet er los in die Richtung, in der Hund verschwunden ist. Das Gebüsch ist hier teilweise dicht. Rolands Haut bekommt einige Kratzer ab. Der Hund ist in Richtung des Baches gelaufen. Als Roland am Bach ankommt, sieht er den Hund nicht mehr. Er fühlt eine große Enttäuschung in sich. Er glaubt es nicht: So kurz vor dem Ziel hat er das perfekte Foto wieder verloren. Dann hört er auf der anderen Seite der Straße einen Hund bellen. Der Hund ist durch das Rohr auf die gegenüberliegende Straßenseite gelaufen, folgert Roland sofort. Er bückt sich und bewegt sich schnell durch das Rohr. Auf der gegenüberliegenden Seite angekommen überschlagen sich die Ereignisse. Er sieht nicht nur den Hund vor sich. Etwas oberhalb des Hundes steht ein Junge. Roland kennt den Teenager. Er hat ihn vor Kurzem hier mit seiner Freundin auf der Bank angetroffen und dabei kurz mit ihm gesprochen. Kennengelernt hat er den Jungen, als er seiner Mutter einmal geholfen hat. Roland braucht ein paar Sekunden, um zu verstehen, was genau passiert. Der Hund bellt und hat nichts in der Schnauze. Der Junge hat die Brotdose und die Kamera in seinen Händen. Als der Teenager ihn sieht, hält er ihm die beiden Gegenstände entgegen. Er stammelt etwas. Roland versteht nicht, was der Junge genau sagt. Das ist ihm im Moment egal. Er ist froh, dass der die Kamera heil in seinen Händen hält. Wie in Trance sagt er dem Jungen ein paar Dinge. Er erklärt ihm, wie bedeutsam ihm die Kamera heute ist und dass eine Welt, in der man Angst hat, dass einem Dinge, die einem wichtig sind genommen werden, keine erstrebenswerte Welt ist. Er sagt ihm, dass er deshalb froh ist, in Deutschland zu wohnen. Er erklärt ihm, dass es im Staat eine Menge Bürokratie gibt, aber dafür eine gewisse Sicherheit. Es gibt Gesetzte, die das Zusammenleben regeln. Roland sieht den Jungen an. Er hat Mitleid mit ihm. Es ist nicht in seinem Sinne dem Teenager weitere Scherereien zu bereiten. Er nimmt die Kamera und humpelt zurück zum Auto. Für den Rückweg wählt er den Weg über die Straße. Bei der Verfolgung durch den Tunnel ist er umgeknickt. Sein Knöchel schmerzt. Der schwarze Hund folgt ihm. Als Roland am Auto ankommt, sieht er den Hund an. Ohne ihn hätte er seine Kamera nicht wieder bekommen. Nur durch das Bellen des Hundes bemerkte Roland, dass der Junge mit der Kamera auf der anderen Straßenseite ist. Der Hund schaut wieder so traurig. Heute nimmt Roland den armen Kerl mit zu sich nach Hause. Er mag den kleinen Racker und ist ihm so dankbar, dass er über seinen Schatten sprint und Verantwortung für das Tier übernimmt.

Kira

5 s i c h t Weisen

Kira wurde als Straßenhündin geboren. Ihre Mutter gebar sie in der hintersten Ecke eines Schuppens. Hier war Kira schon früh mit ihren Geschwistern alleine, wenn ihre Mutter Nahrung suchte. An einem Tag geschah etwas Schreckliches. Zwei Männer kamen in den Schuppen. Alles vollzog sich rasend schnell. Kira sah, dass einer der Menschen eines ihrer Geschwister in einen Behälter hineinsteckte. Dieser wirkte eng und verängstigte Kira. Weiter erinnert Kira sich nur daran, dass einer der Menschen sie anfasste. Kira hat reflexartig schnell zugebissen. Der Mann gab einen Laut von sich und lies Kira verschreckt los. Daraufhin lief Kira um ihr Leben. Sie kannte den Schuppen in- und auswendig und wusste, wie sie aus ihm herauskommt. Draußen lief sie erst immer der Nase nach so schnell wie möglich in eine Richtung. Als sie aufhörte zu laufen, war sie alleine. Niemand war da. Sie war müde. Sie legte sich hin, um sich zu erholen, und schlief ein. Als sie erwachte, wusste sie nicht, wo sie war. Bisher war sie nie alleine aufgewacht. Sie fühlte sich hungrig. Sie sah sich um. Vor sich sah sie eine große Wiese mit Bäumen. Sie verspürte Lust, über das Gras zu laufen. Es war niemand da, der sie zurechtwies. Was spricht dagegen, jetzt über die Wiese zu rennen, fragte sie sich? Kira stand auf und lief los. Ihr gefiel das Laufen. Sie fühlte sich zufrieden und frei. Dann roch sie etwas Interessantes. Sie folgte ihrer Nase bis zu einem Loch. Der Geruch kam aus dem Loch. Kira buddelte los. Das Buddeln war spaßig. Es bereitete ihr Freude. Sie hielt immer mal wieder inne und drückte ihre Nase tief in das Loch. In dem Loch war etwas Tolles. Sie buddelte aufgeregt weiter und steckte dabei immer wieder ihre Nase in das Loch. Plötzlich hatte sie etwas Warmes im Mund. Das schmeckte ihr. Kira war zufrieden. Sie hattet zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Sie hatte Spaß beim Buddeln und war satt. Sie fühlte sich voller Energie. Irgendwann wurde sie des Buddelns müde. Sie sah auf. Beim Aufsehen war sie der Meinung am Ende des Feldes eine Bewegung zu sehen. Das war aufregend. Was bewegte sich da? Schnell lief sie in die Richtung, in der sie die Bewegung wahrgenommen hatte. So entdeckte Kira an diesem Tag viele neue Dinge. Irgendwann war sie todmüde. Im Schutz eines Baumes schlief sie – an ihrem ersten Tag alleine in Freiheit – zufrieden ein.

Zu Beginn ihres Lebens hatte Kira eine Menge Glück. Einmal sah sie eine Gruppe anderer Hunde in der Ferne. Aus Neugier lief sie auf das Rudel zu. Als die fremden Rüden Kira entdeckten, liefen diese dem kleinen Welpen entgegen, dabei schauten sie nicht einladend. Auf Kira wirkte es jetzt eher so, als ob die anderen sie jagen. Als Kira das bemerkt, spürte sie Angst in sich aufsteigen. Kira konzentriert sich auf die Körpersprache der fremden Artgenossen. Diese wirkten jetzt bedrohlich. Die kleine Hündin kennt die Gegend, weil sie hier schon ein paar Tage herum streunst. Kira weiß, dass in der Nähe zwei Häuser so dicht beieinanderstehen, dass sie zwischen den Gebäuden hindurch durchpasst. Für die großen Hunde ist der Spalt aber sicher zu eng. Die anderen Straßenhunde sind gezwungen, um das Haus herumzulaufen, wenn sie Kira verfolgen. Kira hat dann einen Vorsprung. Diesen wird Kira nutzen, um durch ein Kellerfenster in eines der leerstehenden Häuser zu gelangen. In einem Haus gibt es viele Versteckmöglichkeiten. Kira kennt das Gebäude. Sie hat schon oft in dem leerstehenden Haus übernachtet. Kira läuft los und quetscht sich schnell durch den von ihr anvisierten Spalt. Auf der anderen Hausseite ist sie im Nu neben dem Kellerfenster. Flink läuft sie dann durch die Öffnung ins Haus. Im Haus angekommen verhält sich Kira leise. In einer Ecke hinter einer Tür legt sie sich hin. Sie rollt sich zusammen. Draußen im Hof hört sie die anderen Hunde. Die suchen nach ihr und spüren sie sicher gleich auf. Kira wird dann ihre Ecke verteidigen. Der kleine Hundekörper ist angespannt. Genau diese Anspannung hat Kira vor ein paar Minuten geholfen, schnell und konzentriert wegzulaufen. Ihr Nervensystem hat auf Flucht geschaltet. Falls die Hunde sie finden, hat sie keine Chance, zu entwischen. Dann wird die Anspannung sie anders unterstützen. Sie wird ihr helfen sich zu verteidigen. Ihr Nervensystem wird auf Angriff schalten. Heute hat Kira Glück. Sie hört im Hof Menschen, die die Hunde verscheuchen. Ins Haus kommen diese Gott sei Dank nicht. Kira fühlt die Anspannung eine ganze Weilein sich. Das Gefühl wird sie ihr Leben lang immer wieder aufsuchen. Kira hasst diese Gefühlserregung, obwohl sie ihr bei einer Flucht oder einer Verteidigung schon oft gute Dienste geleistet hat. Kira hasst das Gefühl, weil sie sich ihm machtlos ausgeliefert fühlt. Kira ist nicht gerne hilflos. Es dauert eine ganze Weile, bis Kira wieder Ruhe in ihrem Körper findet. Als alles um sie herum friedlich ist, merkt der kleine Welpe, wie erschöpft er ist. Kira schläft hinter der Tür zusammengekauert ein.

Kira lebt ein paar Monate in Freiheit. Sie ist gezwungen selbständig zu handeln. Sie kümmert sich alleine um ihre Probleme, organisiert sich Futter und unterteilt sich den Tag frei in Ruhephasen und Phasen der Futtersuche. Niemand schreibt ihr etwas vor. Manchmal fühlt sie sich einsam. Meist schläft sie alleine in dem leerstehenden Haus. Über Tag genießt sie ihre Freiheit. Dabei vermeidet sie es, den anderen Hunden zu begegnen. Kira weiß, dass das Rudel gefährlich ist. Die Straßenhunde sind oft hungrig. Dieser Hunger macht die Hunde tückisch. Sie beißen dann sogar Artgenossen, um an deren Beute zu kommen. Kira war einmal nah dabei, als das Rudel einen anderen Hund totgebissen hat. An diesem Tag hätte es Kira fast erwischen. Sie blieb nur verschont, weil sie ein bisschen schneller als der andere Hund gelaufen ist. Später an diesem Tag hat es lange gedauert, bis Kira wieder Ruhe in sich gefunden hat. Ihre Anspannung löste sich nur langsam. Als sie dann endlich einschlief, träumte sie von den bösartigen Hunden. In Kiras Vorstellung gibt es nichts, was schwerer zu ertragen ist, als von diesen Hunden aufgespürt zu werden. Später wird sie solche Dinge erleben. Das weiß Kira aber heute nicht. Im Moment genießt sie ihr Dasein. Sie kennt nichts anderes. Sie weiß nicht, dass es Hunde gibt, die nicht tagtäglich Angst um ihr Leben haben und regelmäßig genug zu essen bekommen. Deshalb ist sie froh mit dem, was sie hat. Sie ist frei. Sie liebt es, im Sonnenschein schnell über ein Feld zu laufen. Sie spielt gerne in dem Bach, der in der Nähe des Hauses entlang fließt. Und sie findet Ruhe, wenn sie alleine in einem sicheren Versteck kauert und die Gegend um sich herum unter Kontrolle hat. Kira ist eine ausgezeichnete Beobachterin. Ihr entgeht nichts.

Als die Tage kälter und dunkler werden, ist Kira die meiste Zeit alleine in dem leerstehenden Haus. Während der warmen Zeit waren hier täglich Menschen im Hof und holten Dinge oder brachten Gegenstände zurück. Kira war in dieser Zeit achtsam. Jetzt, da es seltener erforderlich ist, dass sie aufmerksam ist, wird die kleine Hündin mutiger. An einem Tag war sie dann zu furchtlos. Kira hatte großen Hunger und auf dem Hof findet sie in der kalten Jahreszeit nur wenige Mäuse. Deshalb beschließt die braune Hündin, außerhalb des Hofes Nahrung zu suchen. Als sie ziellos über das Feld läuft, springt ein Hase vor Ihrer Nase auf. Sofort nimmt sie die Verfolgung auf. Sie hat nur den Hasen im Blick. Deshalb sieht sie den schwarzen Jeep nicht, der auf der Straße auf sie zukommt. Erst als dieser immer näher an sie herankommt und sie verfolgt, erkennt sie die Gefahr. Zu dem Zeitpunkt ist es aber schon zu spät. Fast gleichzeitig spürt Kira etwas um ihren Hals. Dieses Etwas zieht sich immer mehr zu. Kira bekommt keine Luft mehr. Trotzdem versucht sie weiterhin, sich zu befreien. Aber sie ist chancenlos. Sie merkt, wie jemand sie packt und in etwas Enges steckt. Dann verliert sie das Bewusstsein. Als sie wieder erwacht ist es schrecklich laut um sie herum. Sie öffnet die Augen und sieht Gitterstäbe. Auf der anderen Seite ist ein Hund, der bedrohlich auf sie wirkt. Unter normalen Umständen wäre Kira diesem Hund aus dem Weg gegangen. Hier ist dies nicht möglich. Der Raum, der ihr zur Verfügung steht, ist beengt. Sie hat nicht genug Platz für sich. Kira verlebt zwei schreckliche Tage. Sie überlegt zu fliehen, sie sieht hierzu aber keine Möglichkeit. Sie steht unter Schock und die vielen Reize überfordern sie. Es gibt Menschen, die ihr Essen geben, aber sie isst nichts. Sie weiß nicht, was mit ihr passiert und ist völlig hilflos. Sie steht permanent unter Anspannung. Der dritte Tag wird besonders schrecklich für Kira. Ein Mensch kommt zu ihr und bindet ihr etwas um den Hals. Dann zerrt er sie hinter sich her. Kira versucht, sich zu befreien. Sie widersetzt sich mit aller Kraft. Aber sie ist zu kraftlos. Am Ende steckt man sie in einen dunklen engen Raum. Kiras Anspannung steigt, als sie in ihrer Nähe viele andere Hunde hört. Plötzlich vibriert der Raum und Kira wird hin und her geschleudert. Jetzt verfällt sie völlig in Panik. Dabei ist sie alleine – es niemand da, der sie beruhigt. Die Zeit in dieser engen dunklen Falle kommt Kira unendlich lange vor. Irgendwann wird sie dann aber doch von einem Menschen aus ihrem Gefängnis herausgenommen. Dieser behandelt sie behutsam. Trotzdem wünscht sich Kira nichts sehnlicher, als frei zu sein und wieder alleine für sich zu selbst sorgen und zu entscheiden. Sie ist der felsenfesten Überzeugung, dass nur sie weiß was das Beste für sie ist. Das hat sie bewiesen. Bisher hatte sie ihr Dasein im Griff. Jetzt wird sie von dem behutsamen Menschen wieder eingesperrt und hat ihr Leben nicht mehr selbst in der Hand. Kira ist am Ende ihrer Kräfte. Ihr Körper rebelliert. Sie isst nichts, obwohl sie Hunger hat. Ihr ist es nicht möglich, etwas herunterzuschlucken. Die wenigen Dinge, die sie in sich hineinbekommt, bewirken, dass ihr Bauch schmerzt.

In dem neuen Gefängnis hat Kira etwas mehr Raum um sich herum. Außerdem behandeln die Menschen hier die kleine Hündin sanfter und fürsorglicher. Sie haben mehr Zeit. Trotzdem hat Kira große Probleme sich zurechtzufinden. Hier ist alles anders, als sie es gewöhnt ist. Kira ist es nicht möglich, etwas von dem anzuwenden, was sie einmal in der Freiheit gelernt hat. Täglich kommt ein Mensch, der ihr eine Schnur um den Hals bindet und dann mit ihr herumläuft. Dabei zieht er sie oft nah an anderen Artgenossen vorbei. Manche der Hunde zeigen Kira mit ihrem Körper deutlich, dass die Konfrontation sie nicht begeistert. Und Kira selbst passierte die fremden Tiere ebenfalls nicht so nah. Sie würde einen großen Bogen um diese Hunde schlagen. Kira entscheidet aber nicht selbst. Der Mensch mit der Schnur gibt den Weg vor. Ihr bleibt nichts anders übrig, als ihm zu folgen. In Kira steigt in solchen Situationen ihre gewohnte Anspannung auf. Da es ihr nicht möglich ist, zu fliehen, schalte die Erregung von Flucht in Angriff um. Kira wird wild, bellt und beißt wild um sich. Das Beißen hat ihr zu Beginn ihres Lebens einmal geholfen nicht gefangen zu werden. Dies ist Kira in Erinnerung geblieben. Unter Umständen hat sie diesen Reflex deshalb verinnerlicht. Heute bereitet ihr das Verhalten eher Unannehmlichkeiten. Die Menschen, die sie an der Schnur herumführen, sind nicht begeistert, wenn Kira mit den Zähnen fletscht. Kira merkt das deutlich. Zu Beginn sind diese Menschen oft nett zu ihr. Wenn Kira bellt und beißt, ändert sich dies schnell. Dann sind sie nicht mehr nett. Kira ist es nicht möglich, ihre Aufregung zu unterdrücken, wenn ein Mensch sie an einem für sie gefährlich wirkenden Hund vorbeiführt. Sie ist ihren Gefühlen hilflos ausgeliefert. Lieber würde sie einen großen Bogen um andere schlagen. Dann bleibe sie ausgeglichen. Ein Umweg ist ihr aber nicht möglich, weil sie an der Leine ist. Diese Situationen werden zu einem Teufelskreis, aus dem Kira nicht herauskommt. Wenn Kira bei einem Spaziergang in der Ferne einen anderen Hund sieht, dann ist dies etwas Schreckliches für sie. Kira weiß schon im Voraus, dass sie an der Leine an diesem Hund vorbeigezogen wird und dass sie dann Ärger mit dem Menschen bekommt, der sie führt. So werden Hundebegegnungen immer dramatischer.

An einem Tag wird Kira von einer Frau zu einem Ausflug mitgenommen. Die Frau hat viele Hundekekse in ihrer Tasche. Diese versteckt sie und fordert Kira auf, die Leckerlis zu suchen. Kira hat eine ausgezeichnete Nase. Sie findet alles, was für sie ausgelegt wird. Das Suchspiel ist spaßig. Der Frau scheint das ebenfalls zu gefallen. Sie kommt jetzt öfter und macht längere Spaziergänge mit Kira. Kira genießt diese Ausflüge. Sogar, wenn sie bei den Wanderungen nicht frei läuft, findet sie hier eine willkommene Abwechslung. Sie kommt nicht mit der Enge in ihrer Unterkunft klar. Außerdem wandert die Frau mit ihr Wege, bei denen sie nicht so häufig anderen Hunden begegnen und sie spielt bei jeder Gelegenheit mit Kira Schnüffelspiele. Irgendwann bringt die Frau die kleine Hündin nach einem Spaziergang nicht zurück in ihre Unterkunft. Sie nimmt Kira mit in ihr Haus. In diesem Haus ist es gemütlich. Kira kommt hier erst einmal zur Ruhe. Hier wohnt kein anderes Tier. Das gefällt Kira. Das Zusammensein mit fremden Artgenossen bedeutet für sie meist Stress. Sie hat bisher nur ungute Erfahrungen diesbezüglich gesammelt. Kira vertraut keinem anderen Tier und kommt deshalb in dessen Gegenwart nicht zur Ruhe. Die junge Hündin weiß nicht, warum die Frau sie mit in ihr Haus nimmt und wie lange sie bleiben wird. Seitdem sie gefangen wurde, weiß sie gar nicht mehr, was mit ihr geschieht. Sie fühlt sich hilflos allem ausgeliefert und hat immer wieder Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Kira ernährte sich früher hauptsächlich durch die Jagd. Sie weiß, wie man ein Kaninchen oder einen Vogel fängt und tötet, um an Nahrung zu kommen. Außerdem bereitet ihr das Jagen große Freude. Kira hat gelernt, auf sich selbst gestellt zu sein, und begreift im neuen Umfeld nur schwer, warum die Menschen mit ihrem Jagdverhalten nicht einverstanden sind. Kira sieht wenig Sinn darin, mit der Frau zusammen zu leben. Sie kommt alleine zurecht und braucht aus ihrer Sicht keinen Menschen zum Überleben. Im Gegenteil. Die Frau bringt sie andauernd in unangenehme und in ihren Augen gefährliche Situationen. Kira hat bisher keinen Staubsauger, keine Toilettenspülung und keine Treppe, durch deren Stufen man nach unten hindurch sehen kann, kennengelernt. Alle Gerüche sind ihr neu und ängstigen sie. Kira hat bisher selbst für ihre Sicherheit gesorgt. Unbekannte und schwer zu verarbeitende Reize hat sie in ihrem bisherigen Leben als gefährlich eingestuft. Nur so hat sie bis jetzt überlebt. Heute stuft sie diese vielen ungewohnten Erlebnisse gleichermaßen erst einmal als gefährlich ein. Da im Moment fast alles neu für Kira ist, steht sie permanent unter Stress. Sie kommt mit ihrem ungewollten neuen Leben nicht zurecht. Sie wünscht sich zurück in die Freiheit und ihrer gewohnten Umgebung. Aber sie hat keine Ahnung, wie sie das erreicht. Trotzdem ist sie wachsam und an einem Tag nutzt Kira eine Gelegenheit.

Zu dem Haus, in dem Kira seit einiger Zeit lebt, gehört ein Garten. Kiras Frauchen ist genau wie Kira selbst gerne draußen. Das hat Kira sofort gemerkt. Jetzt, wo die Tage wieder sonniger werden, sind Kira und ihr Frauchen oft im Garten. Manchmal spielen die beiden mit einem Seil ein Zerrspiel. Das mag Kira gerne. Andere Male buddelt jeder für sich in der Erde. Das liebt Kira erst recht. Um den Garten herum ist ein Zaun gespannt. Kira hat sich diesen Zaun genau angesehen. Es gibt kein Durchkommen. Aber mit Anlauf ist es Kira unter Umständen möglich, über den Zaun zu springen. Sie ist sich nicht sicher. Aber Kiras Leidensdruck ist hoch. Freiheit und das Vertrauen auf sich selbst ist für Kira wie die Luft, die sie atmete. Kira hat den Eindruck, dass die Menschen dieser Freiheit nicht trauen. Sie sichern, regeln und kontrollierten alles. Der einzige Ort, an dem Kira heute Spuren von Freiheit findet, ist der Wald in der Nähe des Ortes, in dem Kira jetzt ihr neues Zuhause hat. An das Grundstück grenzt ein Feld und im Hintergrund sieht man den Wald. An einem Tag ist Kira wieder mit ihrem Frauchen im Garten. Kira schaut zum Wald und heute überlegt sie nicht lange. Sie nimmt Anlauf und springt kurz vor dem Zaun mit aller Kraft ab. Sie kommt nicht hoch genug. Ihre hinteren Pfoten bleiben kurz am Zaun hänge. Aber Kira rettet die Situation. Sie handelt nicht bewusst. Das Unterbewusstsein des früheren Straßenhundes ist aber auf solchen Situationen vorbereitet und in ihnen geübt. Kira schafft es, eine der Hinterpfoten auf den oberen Rand des Zauns zu ziehen. Mit dieser Pfote drück sie sich jetzt so fest ab, dass die andere Tatze auf der gegenüberliegenden Seite des Zauns landet. Das ist alles eine Sache von Millisekunden. Kira ist in Freiheit. Sie fasst ihr Glück kaum. Schnell läuft sie Bögen auf dem Feld. Sie hört ihre Menschin rufen und sieht einen Hundekeks in ihrer Hand. Flink läuft sie zum Zaun zurück, schnappt sich den Keks und rennt weiter ihre Bögen auf dem Feld. Kira werden mehr Hundekekse angeboten. Das gefällt ihr. Sie nimmt diese geschwind und läuft weiter im Kreis. Erst als sie bemerkt, dass ihr Frauchen eine Leine in der Hand hält, wir sie skeptisch. Kira hat Angst, wieder angebunden zu werden. Sie schaut zum Waldrand und überlegt nicht lange. So schnell wie möglich läuft sie über das Feld und verschwindet im Wald.

Im Wald gibt es viele Versteckmöglichkeiten. Bei den ersten Bäumen angekommen ist Kira voll in ihrem Element. Sie liebt es, zu rennen. Dabei fühlt sie Leben in sich. Nachdem sie lange Zeit nur an einer Schnur herumgeführt wurde, genießt sie es, sich müde zu laufen. Außerdem gibt es niemanden mehr, der sie ausschimpft und ihr so suggeriert, dass sie etwas falsch macht. Kira läuft jedem Geruch nach. Ihr Körper sagt ihr, dass das so in Ordnung ist. Zunächst ist alles prima. Kira findet sogar einen möglichen Unterschlupf. In der Nähe eines Gebietes, in dem viele Schiefersteine liegen, hatten Menschen einmal ein Haus aus Schiefer gebaut. Dieses wird aber heute offensichtlich nicht mehr genutzt. Das Haus ist in einem ebenso schlechteren Zustand, wie das Haus, in dem Kira gelebt hat, bevor sie gefangen wurde. Es ist aber ein Anfang, denkt Kira - bis sie ein Motorengeräusch hört. Ein Motor macht Kira weit mehr Angst als ein fremder Hund. Ein motorisiertes Gefährt ist größer und schneller als Kira. Es verletzt Kira, wenn es sie berührt. In dem Fahrzeug sind meist Männer, die nichts Gutes mit Kira im Sinn haben. Die Menschen die Kira gefangen haben, sind mit einem solchen Fahrzeug gefahren. Kira merkt, wie die Anspannung in ihr zunimmt, während das Motorgeräusch immer lauter wird. Das Fahrzeug kommt zweifellos auf sie zu. Kira bleibt geduckt in ihrem Versteck liegen. Unter Umständen hat sie Glück und das Fahrzeug entfernt sich schnell wieder. Kira hat kein Glück. Das Motorgeräusch kommt immer näher an sie heran. Irgendwann realisiert Kira, dass ihr nichts anderes übrig bleibt, als zu fliehen. Einen Angriff würde sie verlieren. Sie springt auf und läuft los. Zunächst querfeldein über die Steine. Als sie einen Weg erreicht, hat sie einen großen Abstand zu dem motorisierten Fahrzeug. Kira bemerkt, dass es sich um ein Motorrad handelt. Dann nimmt sie wahr, dass das Zweirad versucht, ihr zu folgen. Kira läuft weiter auf dem Weg. Hier kommt sie flink voran. Dann merkt sie, dass der Verfolger schneller als sie ist. Einmal ist er nah an ihr dran. Dieses Gefährt hat es auf sie abgesehen. Kiras Überzeugung, dass Motorräder etwas Gefährliches sind, verstärkt sich. Kira läuft wieder zwischen den Bäumen hindurch. Und hängt so das Zweirad ab. Beim Weiterlaufen quert Kira eine asphaltierte Straße. Hier ist sie schon öfter mit ihrem Frauchen spazieren gegangen. Diesen Fahrweg kennt Kira. Rechts und links des Weges sieht man immer mal wieder auf Felswände. Vor den Steinwänden wachsen Büsche. Hier wurde früher Schiefer abgebaut und heute nimmt sich die Natur das Land zurück. Kira würde sich dieses Gebiet gerne genauer ansehen. Bei den Spaziergängen war dies nie möglich. Die Leine um ihren Hals ist dafür nicht lang genug. Heute nutzt Kira die Gelegenheit und schnüffelt hier und da herum. Dabei quert sie immer mal wieder die asphaltierte Straße. Bei einer dieser Querungen sieht sie einen Menschen in der Ferne. Kira zieht sich schnell wieder in die Büsche zurück. Leider kennt sie die Gegend aber nicht genau genug. Das Gebiet, in das sie sich zurückzieht, ist eine Sackgasse. Das merkt Kira leider erst, als der Mensch nah bei ihr angekommen ist. Der spricht nett mit ihr. Es hätte Kira schlimmer treffen könnten. Aber sie verliert wieder ihre Freiheit. Der Mensch bindet ein Kleidungsstück provisorisch wie eine Leine um sie herum und zieht sie zurück zum Dorf. Er bring sie zu dem Haus, aus dem sie vor ein paar Stunden erst ausgerissen ist. Ihr bleibt nichts anderes übrig als sich ihrem Schicksal zu ergeben. Kiras Frauchen freut sich offensichtlich darüber, dass Kira wieder da ist. Das Leben in dem neuen Zuhause setzt sich genauso fort, wie bisher. Zweimal täglich an einer Leine einen Spaziergang. Zwischendurch ein paar Ballspiele und abends Streicheleinheiten. Im Grunde genommen gefällt Kira dieses Leben. Das heißt, es möglich, dass sie sich daran gewöhnt und anpasst – wenn es nicht immer wieder Situationen gäbe, die für Kira schwer durchzustehen sind.

Und schon beim nächsten Spaziergang passiert etwas, dass Kira aus der Fassung bringt. In der Ferne sieht Kira einen schwarzen Hund. Dieser Hund ist Kira schon mehrmals aufgefallen. Er läuft meist frei herum. Wenn Kira frei wäre, dann würde sie den Hund beobachten, um herauszufinden, ob er freundlich oder feindselig ist. Er macht auf den ersten Blick einen verträglichen Eindruck. Kira weiß aber, dass dieser unter Umständen täuscht. Ihr ist es wichtig, ein anderes Tier länger zu beobachten, bevor sie es näher an sich heranlässt. Außerdem ist es in ihren Augen zwingend, dass sie jederzeit die Option hat, schnell wegzulaufen. Diese Möglichkeit hat sie im Moment nicht, weil sie angeleint ist. So ist Kira mit ihren Gefühlen nicht im reinen. Sie ist hin- und hergerissen. Ihr Frauchen scheint den Hund bisher nicht wahrgenommen zu haben. Kira hat in der kurzen Zeit des Zusammenlebens schon öfter festgestellt, dass sie ihrem Frauchen in Sachen Beobachten weit überlegen ist. Der schwarze Hund hat sie entdeckt und kommt schwanzwedelnd auf sie zugelaufen. Offensichtlich freut er sich und hat keine böswilligen Absichten. Dies zeigt zumindest sein Körper so an. Zunächst sieht Kira keine Gefahr. Unter normalen Umständen würde sie diesem Hund mit ihrem Körper zeigen, dass sie freundlich gesonnen ist, aber einer Annäherung nur langsam zustimmt. Die würde ebenfalls mit dem Schwanz wedeln und große Bogen laufen. Das ist nicht möglich, sie ist angebunden. Kira fühlt sich nicht unwohl, weil sie sich nicht frei bewegt. Jetzt scheint Kiras Frauchen den Hund endlich wahrzunehmen. Ihre Reaktion verstärkt Kiras Unwohlsein. Der fremde Hund wirkt freundlich. Trotzdem scheint ihr Frauchen ihm nicht zu trauen. Sie hat Angst, das spürt Kira deutlich. Kira ist verunsichert. Wenn ihr Mensch Furcht verspürt, dann gibt es eine Bedrohung. Falls der Hund die Gefahr darstellt, dann wäre es für Kira nur folgerichtig, einen großen Bogen um diesen Hund herum zu laufen. Kiras Frauchen verhält sich aber genau gegenteilig. Sie zieht Kira weiter auf den Hund zu. Kiras Anspannung steigt ins Unermessliche. Sie kann nicht anders. Aus ihr platzt es heraus. Sie würde gerne fliehen. Das ist nicht möglich. Deshalb schaltet sie auf Angriff um. Sie bellt, fletscht, beißt und zerrt an der Leine. Alles eskaliert. Ihr Frauchen schreit und hält sie immer fester und enger. Die Situation ist für Kira unerträglich. Sie fühlt sich hilflos; es ist ihr nicht möglich, etwas zu ändern. Mit allem was sie bisher gelernt und erfahren hat, kommt sie in dieser Welt nicht klar. Sie versucht, ihr Bestes zu geben. Dafür wird sie aber angeschrien und gemaßregelt. Kira fühlt sich hilflos und unverstanden. Und das Allerschrecklichste ist für Kira, dass sie in dieser Situation gefangen ist. Sie würde ja gerne zurück in ihre Welt, in der sie klar gekommen ist – aber man lässt sie nicht. Vielmehr hält man sie fest in einer Welt, in die sie nicht hinein passt.

Bei einem Spaziergang sieht Kira den schwarzen Hund wieder frei herumlaufen. Er wirkt hungrig auf sie. Neid keimt in Kira auf. Heute ist sie nicht angespannt. Der schwarze Hund ist weit genug von ihr entfernt. Es ist ein Labrador, der wieder deprimiert aussieht. Kira überlegt, warum ein Hund traurig ist, wenn er frei ist. Ein ungebundener Hund hat doch alle Möglichkeiten. Der schwarze Hund läuft auf einen Menschen zu, der unnatürlich regungslos auf einer Bank am Wegesrand sitzt. Kira hält die Luft an. Warum läuft der Hund auf den Menschen zu? Der Mann wird ihn fangen. Zunächst nimmt dieser den Hund aber gar nicht wahr. Er sieht durch ein komisches schwarzes Etwas. Neben dem Mann steht eine Tasche. Plötzlich wird Kira klar, warum der Hund in diese Richtung rennt. Der Menschen ist nicht das Ziel. Er läuft zur Tasche. Und wieder merkt Kira Neid in sich aufsteigen. Sie würde so gerne frei sein und genau dahin laufen. Sie wünscht sich, dort herumzuschnüffeln, wo ihre Nase sie hinführt. Der Labrador hat mit seiner Schnauze etwas aus der Tasche herausgenommen. Mit diesem Etwas läuft er jetzt davon. Kira wüsste gerne, was der schwarze Hund erbeutet hat, und sie möchte selbst daran herumschnüffeln. Das ist höchstwahrscheinlich ein interessanter und spannender Geruch. In Kiras Leben passiert aktuell wenig Interessantes und Spannendes. Für Kira ist das Leben im Moment eher unvorhersehbar und verunsichernd.

Wenn für Kira das Leben weiterhin unvorhersehbar und verunsichernd ist, merkt sie doch, dass ihr Frauchen ihr – soweit wie es ihr möglich ist – hilft. Sie gibt sich zumindest Mühe. Die Frau scheint gemerkt zu haben, dass es Kira schwerfällt, an einer kurzen Leine geführt zu werden. Seit ein paar Tagen wird Kira beim Spaziergang an einer langen Schnur angeleint. Kira wäre es Kira lieber, frei zu laufen. Denn, mit dieser Hundeleine gibt es ebenfalls immer mal wieder Stress. Kira ist es jetzt zwar möglich, sich weiter von ihrem Frauchen zu entfernen und ist nicht gezwungen genau das gleich Tempo zu wandern. Aber dies gilt nur so weit, wie die Leine lang ist. Diese Entfernung ist für Kira aber nur schwer abzuschätzen. Immer wieder sieht sie etwas und möchte daran schnuppern. Sie läuft los und wird dann abrupt von der Leine gestoppt. Dieses Etwas war dann doch zu weit entfernt. Die Hundeleine reichte nicht, um dieses Etwas zu erreichen. Kira hatte aber schon eine so hohe Geschwindigkeit beim Laufen erreicht, dass sie beim abrupten Stoppen fest an der Leine zog. Immer wenn sie fest an der Hundeleine zieht, dann wird sie ausgeschimpft. Mit dieser neuen langen Leinen gibt es jetzt immer mehr Situationen, in denen sie gemaßregelt wird. An einem Tag passiert dann etwas Seltsames. Kira ist es schon gewohnt, abrupt von der Leine gestoppt zu werden. Immer wieder sieht sie etwas und läuft auf Verdacht los, ohne zu wissen, ob die Leine reicht oder nicht. Als sie an einem Tag hinter ihrem Frauchen herläuft und weiter vorne einen Hasen aufspringen sieht, läuft sie wieder instinktiv los. Heute stoppt die Leine sie nicht. Kira versteht nicht, warum sie nicht gestoppt wird. Sie hat aber keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Sie hat nur Augen und Ohren für diesen Hasen. Der Hase rennt zunächst rasend schnell in Hacken über das Feld. Kira hat Mühe, an ihrem Jagdobjekt dran zu bleiben. Als die beiden in der Nähe der Straße ankommen, verschwindet der Hase im Gestrüpp einer Böschung. Hier verliert Kira ihn aus den Augen. Kira schnüffelt weiter im Gebüsch herum. Sie hat den Hasen schnell vergessen. Im Gestrüpp gibt es so viele andere Gerüche, die es wert sind, entdeckt zu werden. Kiras folgt ihrer Nase und die lockt sie hoch zum Straßenrand. Hier findet sie eine Menge weggeworfener Verpackungen, die nach Essensresten duften. Als Kira in der Nähe der Leitplanke ist, hört sie ein Auto auf der Straße herankommen. Schnell versucht sie, wieder weiter vom Fahrweg weg ins Gebüsch zu wechseln. Dabei passiert sie etwas, dass sie jetzt erst bewusst wahrnimmt. Hier steht ein Zweirad direkt hinter der Leitplanke, an diese angelehnt. Kira erschrickt kurz. So ein Fahrzeug wirkt sogar außer Betrieb beängstigend auf sie. Schnell schleicht sie an dem Zweirad vorbei nach unten. Das Fahrzeug riecht nach Abgasen. Unmittelbar nachdem sie das Gefährt passiert hat, hört sie hinter sich etwas umfallen. Erschrocken schaut sie sich um. Sie glaubt es kaum. Das Zweirad liegt am Boden und verfolgt sie jetzt. Sie beschleunigt ihren Schritt und kommt plötzlich nicht mehr voran. Irgendetwas hält sie fest. Immer dann, wenn sie mit aller Kraft versucht, weiter nach vorne zu gelangen, macht das Zweirad einen Ruck auf sie zu. Kira erstarrt, und traut sich kaum zu atmen. Regungslos bleibt sie liegen. Wenn sie sich nicht bewegt, dann regt sich das Zweirad ebenfalls nicht. Sobald sie sich in Bewegung setzt, ruckelt das gefährliche Objekt auf sie zu. Gott sei Dank macht das Fahrzeug im Moment keinen Krach. Das würde Kira gar nicht aushalten. Für sie ist die Situation schon so fast nicht zu ertragen. Völlig verängstigt kauert sie am Boden. Als sie der Meinung ist, es nicht mehr auszuhalten, passiert etwas Unerwartetes. Aus dem Nichts taucht ihr Frauchen auf. Kira glaubt nicht, was dann geschieht. Die Frau hat scheinbar gar keine Angst vor dem Zweirad. Mutig bewegt sie sich auf das Ding zu. Was sie genau macht, erkennt Kira nicht. Aber das Ding lässt Kira ab jetzt in Ruhe. Es verfolgt Kira nicht mehr weiter. Kiras Frauchen nimmt die Leine und zieht Kira von dem Zweirad weg. Dieses Mal hat Kira nichts dagegen, angebunden mit ihrer Halterin mitzugehen. Sie fühlt sich im Moment sogar sicher in deren Nähe. Das erste Mal im Leben ist Kira froh, dass jemand ihr hilft. Sie war in einer Situation, aus der sie nicht selbst heraus kam. Das war ihr früher in Freiheit nie passiert. Sie hat sich bisher immer mit eigener Kraft aus misslichen Lagen befreit, wenn sie nicht an einer Leine angebunden war. Heute war sie nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Ihr Frauchen hat sie gerettet. Kira sieht ihre Menschin seit dieser Rettung mit anderen Augen. Sie fühlt sich sicherer in ihrer Gegenwart. Kira macht die ersten Ansätze, die positiven Seiten ihres neuen Lebens zu sehen. Dies führt dazu, dass es immer weniger Probleme gibt und dies hat wiederum zur Folge, dass Kiras Halterin angstfreier wird. Der Teufelskreis, der zu Beginn nach unten kreiste, dreht langsam aber stetig nach oben.

Klara

5 s i c h t Weisen

Klara war ein wissbegieriges Kind. Sie war schon früh voller Entdeckerfreude. Alles weckte ihr Interesse. Wenn Sie etwas Spannendes auftat, dann erkundete sie es sofort. Dies brachte ihre Mutter oft in Situationen, die der armen Frau unangenehm waren. Denn Klaras Mama hatte als Kind gelernt, dass man am besten unauffällig sein Leben lebt. Klaras Mutter war mit diesem unspektakulären Dasein selbst rundum zufrieden. Ihr war es nicht wichtig, etwas Besonderes zu erleben. Im Gegenteil! Sie war froh, wenn sie zuhause in ihrer gewohnten Umgebung war. Hier kannte sie sich aus. Hier war alles so eingerichtet, wie sie es gerne hatte. Sie liebte es, in Ruhe in ihrem Wohnzimmer zu sitzen und zu handarbeiten und dabei fern zu sehen. Sie fieberte mit, wenn Sie Sportsendungen ansah. Klara war anders. Ihr reichte es nicht, die Sportler im Fernsehen zu sehen. Sie war neidisch auf die Menschen, die aufregende Dinge selbst erlebten. Gerne hätte sie beim Sport mitgemacht. Als Kind hatte sie aber keine Möglichkeit so zu leben, wie sie es sich wünschte. Außerdem hatte sie nur ihre Eltern als Bezugsperson. Oft fühlte sie sich falsch, weil sie so anders war wie alles was sie kannte.

Aus Sicht der Eltern war Klara ein Wunschkind, genau wie ihr jüngerer Bruder. Ihre Mutter und ihr Vater hatten zwei Kinder geplant. Sogar der Zeitpunkt hat genau gepasst, zu dem die Geschwister geboren wurden. Aber anders als ihr Bruder war Klara so gar nicht das Kind, das ihre Mutter erwartet hatte. Das Mädchen ließ sich nicht gerne schick anziehen. Meist waren diese feinen Kleider eng und das Kind wurde gemaßregelt, wenn es etwas verschmutzte. Letzteres passierte Klara am laufenden Band und für sie selbst war das gar nicht ärgerlich. Sie genoss es, wild zu spielen. Schick zu sein hasste sie wie die Pest. Klara schlief als Kleinkind wenig und wenn sie wach war, dann hatte ihre Mutter keine geruhsame Minute. Sie achtete dauernd auf sie. In Klaras Straße gab es einen Bauernhof, der von einem großen Hund bewacht wurde. Immer wenn Klara mit ihrer Mutter an dem Hof vorbeikam, bellte der Hund. Das Kind hätte den Hund gerne näher betrachtet. Am liebste würde sie ihn streicheln. An einem Tag lief Klara zum Tor und kraulte die Nase des Hundes, als der diese unter dem Tor durchstreckte. Für einen Moment hatte ihre Mutter beim Spaziergang nicht auf sie geachtet. Auf Klara wirkte diese Situation gar nicht bedrohlich. Der Hund schien das Streicheln zu genießen. Er war zwar schmutzig und hatte ein zotteliges Fell. Aber die Augen des Tieres schauten freudig und gar nicht angsteinflößend. Erst als Klaras Mutter laut losschrie und auf sie zu rannte, fühlte Klara sich unwohl. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre Mama war aufgeregt und zog das sie schnell vom Tor weg. Das Kind hatte das Gefühl, dass etwas nicht so ist, wie es zu sein hat. Sie wusste aber nicht recht was. Ihre Mutter schimpfte mit ihr. Das Mädchen hörte sich an, dass es nicht möglich ist, sie einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Das ist ungezogen. Klara war sich nicht bewusst, dass sie etwas Böses begangen hatte. Am Abend erzählte Klaras Mutter ihrem Mann von der Hundebegegnung. Klara hörte zu und wunderte sich. Sie hatte die Situation gar nicht so dramatisch in Erinnerung. Ihr Gedächtnis war aber zweifelsfrei falsch. Zumal Klaras Vater schockiert war. Er war ebenfalls der Meinung, dass der Hund gefährlich ist. Eltern wissen doch immer alles! Klara hatte das offenbar falsch eingeschätzt. Seit diesem Tag macht sie einen großen Bogen um alle Hunde. Sie lernte als Kind nicht, dass es harmlose Vierbeiner gibt und dass man sich an der Körpersprache des Tieres orientiert. In Erinnerung bleibt ihr, dass Begegnungen mit Hunden ohne Ausnahme gefährlich sind! Zumindest führen sie immer zu unangenehmen Situationen. Manchmal ist es so, dass Klara den Hund nicht einzuschätzen vermag. Dann ist ihr ihre eigene Unsicherheit unangenehm. Meist ist es nicht möglich, dass sie den Hund länger beobachtet, weil ihre Mutter dies verbietet und Annäherungsversuche schimpfend verhindert. In diesem Fall ist es Klara unangenehm, dass sie nicht frei ist so zu handeln, wie sie es gerne täte. So sind alle Begegnungen mit Hunden für Klara schwierig. Sie bleibt zweifelnd und macht keine positiven Erfahrungen. Misstrauisch ist Klara nicht nur im Bezug auf Hunde. Später wird ihr einmal bewusst werden, dass dieses uneingeschränkte Misstrauen nicht berechtig ist. Ein Ereignis wird dafür sorgen, dass sie über ihren eigenen Schatten springt.

Die erste Zeit im Kindergarten nutzte Klara nicht für sich. Sie ist in ihrer negativen Gedankenwelt gefangen. Das verunsicherte aber lebhafte Kind wurde dort angemeldet, weil ihr Bruder geboren wurde. Ihre Mutter brauchte die Zeit für das neue Baby. Klara fühlte sich abgeschoben. Die meiste Zeit ist sie damit beschäftigt, sich vor den unartigen Jungen in Acht zu nehmen. Als schüchternes kleines Mädchen war sie prädestiniert dafür, gemobbt zu werden.

Unsicherheit und Angst bestimmen Klaras weiteres Leben. Das gilt insbesondere dann, wenn sie etwas nicht sofort selbst nachvollzieht. In der Grundschule im Sachunterricht ist der Auftrieb im Wasser einmal ein Thema. Die Grundschullehrerin zeigt dies an einem Experiment. Sie nimmt einen kleinen Ball und lässt diesen in einem Becken mit Wasser schwimmen. Dann drückt sie ihn nach unten und gibt ihn daraufhin wieder frei. Der Ball schnellt an die Wasseroberfläche. Klara sieht das, versteht aber nicht, warum dies so ist. Sie hat bisher nicht gelernt, dass Wasser und Luft, genau wie alle anderen Elemente aus Molekülen und Atomen besteht kleinen Teilen, die unterschiedlich dicht beieinanderliegen. Die Erklärung der Lehrerin “Grundsätzlich schwimmt etwas, wenn es leicht ist” ist für Klara nicht eingängig – sie versteht das nicht. Es gibt schwere Schiffe die schwimmen, und leichte Steine, die untergehen. Das passt nicht. Das verunsichert sie. Sie fragt weiter, weil es ihr wichtig ist, es zu begreifen. Irgendwann wird sie lästig. Dann hört sie oft den Satz, der sie weiter verunsichert: “Das ist so, das musst du einfach glauben”. Klara reicht es nicht, etwas zu übernehmen und auswendig zu lernen. Für sie es wesentlich, Dinge zu begreifen. Selten macht sich jemand die Mühe, mit dem Kind Unverständliches zu erkunden und ihr etwas in Ruhe zu erklären. Sie fühlt sich oft hilflos, weil sie als Kind nicht die Möglichkeit hat, sich selbst zu helfen. Sie ist auf Gedeih und Verderb von ihren Bezugspersonen abhängig. Als Erwachsene ist es ihr zukünftig möglich, sich Informationen selbst zu besorgen. So versteht sie den Auftrieb ein paar Jahre später allein mithilfe eines Buches, in dem die Dichte erklärt ist. Hier wird ihr klar, dass die Aussage, dass leichte Dinge schwimmen, nicht genau ist. Es hängt alles davon ab, wie dich die Atome oder Moleküle beieinander sind. Bis zu diesem Zeitpunkt grübelt sie aber eine Menge und zweifelt an sich, weil sie etwas nicht verstanden hat, was ihr wichtig ist. Und unverstandene Situationen gibt es in Klaras Leben viele. Später wird Klara einmal handeln, ohne dass sie die Gegebenheit verstanden hat. Diese Handlung wird Einfluss auf ihr Leben haben. Bis zu dem Zeitpunkt ist sie aber immer und permanent der Meinung, dass nur sie ein Problem hat. Die meisten Menschen sind schlauer als sie und haben es verstanden und andere sind nicht so wissbegierig wie Klara und es ist ihnen egal. Warum ist sie nicht so, wie die?

Schon als Kind bemerkte Klara, dass Bewegung ihr Leben angenehmer macht. Leider verbrachte sie in Ihrer Kindheit die meiste Zeit im Haus. Im Haus war toben nicht möglich. Schnell hatte sie den Ruf, wild zu sein. Ihr Bruder war immer so angenehm brav. Wenn Klara sich bewegte, war es schnell so, dass sie ihre Familie störte. Das Kind fiel fortwährend unangenehm auf. Dabei war es ihr wichtig, anderen zu gefallen. Bewegung war somit etwas Zwiespältiges für das Mädchen. Oft war es mit negativen Rückmeldungen verbunden. Trotzdem nutzte sie Gelegenheiten. Zum Beispiel sammelte sie bei ihren Eltern Pluspunkte, weil sie im Sommer das Fahrgeld zur Schule sparte. Sobald es früh genug hell war, fuhr sie die drei Kilometer zum Nachbarort morgens mit dem Rad. Ihr Bruder hatte dazu keine Lust. Er bevorzugte den engen Bus. Klara war anders, sie genoss diese morgendliche Bewegung. Sie liebte den Sommer. Die Wintermonate waren etwas Schreckliches für sie.

Als junge Erwachsene kam Klara das erste Mal mit Menschen zusammen, die sie unabhängig von ihren Eltern kennenlernte. Anders als in der Schulzeit war es ihr möglich, diese Freundschaften selbständig zu pflegen. Sie verfügte jetzt über ein eigenes Auto. Klaras neuer Freundeskreis war sportlich und aktiv. Klara joggte ebenfalls seit einiger Zeit. Und sie liebte das Schwimmen im See. Als sie eines Tages zu Hause erzählte, dass sie im Maar geschwommen ist, fiel Ihre Mutter aus allen Wolken. In dem See sind nach deren Meinung Pflanzen, die einen Menschen an den Füßen nach unten ziehen. Ihre Tochter hatte nach Meinung der Mutter Glück, dass sie nicht ertrunken ist.

Als Klara das nächste Mal am See ist, spürt sie Angst. Als eine Pflanze sie am Fuß berührt, traut sie sich nicht weiter zu schwimmen. Sie setzt sich an den Rand und fühlt Traurigkeit in sich aufsteigen. Es war doch immer so wohltuend hier. Was war jetzt auf einmal anders. Sie weiß, dass es keine Pflanzen gibt, die einen Menschen nach unten ziehen. Sie ist heute alt genug, um sich selbst zu informieren. Es gibt Pflanzen in einem See. Das ist Klara bewusst. Ein Problem ist es, wenn man hektisch wird und mit den Füßen strampelt. Dann passiert es unter Umständen, dass die Pflanzen sich um das Bein wickeln. Das ist aber alles. Und es passieren immer mal wieder, dass ein Mensch ein Problem hat, wenn er mitten im See schwimmt. Dann ist er auf Hilfe angewiesen. “Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine 20jährige, junge und gesunde Frau ein solches Problem hat?”, fragt Klara sich kritisch. Außerdem gibt es Hilfe. Die DLRG hat eine Station am Ufer. Die junge Frau überlegt weiter. Gestern war die Mutter ihrer Freundin Jutta mit am See. Juttas Mama ist ebenfalls im See geschwommen. Klaras Mama war bisher nie im See. Klara erinnert sich nicht daran, ihre Mutter überhaupt einmal schwimmen gesehen zu haben. Woher nimmt die Frau ihre Erkenntnis? Warum hört Klara auf die Worte von jemandem, der objektiv gesehen etwas gar nicht selbst erlebt hat und es deshalb nicht möglich ist, dass er über Wissen zu dem Thema verfügt? Klara überlegt weiter: Orientiert sie sich nicht besser an den Menschen, die selbst Erfahrungen sammeln? Sie nimmt all ihren Mut zusammen und schwimmt zu der Boje, die sie die Tage vorher immer anpeilte. An diesem Tag fühlt sie sich nicht selbsicher dabei. Sie merkt aber, dass das der erste Schritt in die richtige Richtung ist. Langsam verlässt sie ihre Komfortzone. Es hat Vorteile, Dinge so auszuführen, wie andere es erwarten und nichts Neues auszuprobieren. Man eckt nicht an und es passiert wenig Unerwartetes. Es gibt aber ebenso Nachteile: Für manche Menschen ist ein Leben ohne neue Erfahrungen langweilig. Klara gehört zweifellos zu diesem Menschentyp. Als junge Frau ändert sie die Art zu leben. Sie probiert Neues aus. Dabei wird sie das ein oder andere Mal auf Problem stoßen. Sie ist gezwungen, diese Probleme selbst in die Hand zu nehmen und zu lösen. Auf solche Situationen ist Klara nicht vorbereitet. So hat sie eine turbulente Zeit vor sich.

Klara liebt es, abends zu joggen. Sie hasst die Tage, an denen es ihr nicht mögliche ist nach der Arbeit im Wald zu laufen. Nachdem die Uhr im Oktober auf die Winterzeit umgestellt wird, ist es dunkeln, wenn sie Feierabend hat. Aber im Sommer nutzt Klara fast jeden Tag. An einem Tag läuft ein Hund auf sie zu, während sie auf einem Feldweg joggt. Sie merkt sofort Angst in sich aufsteigen. Diese verschlimmert sich, als sie einen Mann schreien hört. Der Mann ruft nach seinem Hund. Der Hund macht aber keine Anstalten auf sein Herrchen zu hören. Vielmehr läuft er direkt auf Klara zu. Die junge Frau hatte beim Joggen schon öfter Angst vor einem Hund. Aus dem Grund hat sie sich ein Pfefferspray besorgt. Bisher hat sie dieses nie eingesetzt. Sie hat das Spray aber immer zur Hand. Sie klemmt die Sprühdose vor jedem Trainingslauf beim Umziehen an den Bund ihrer Hose. An diesem Tag nutzt sie das Spray. Als der Hund die Chemikalie in seiner Nase und in den Augen spürt, schreckt er zurück. Der arme Kerl jault und bewegt die Pfoten zum Gesicht. Klara zittert weiterhin vor Angst. Mittlerweile ist der Besitzer des Hundes bei ihr angekommen. Er streichelt seinen Hund. Der Hund ist ein braver und er beabsichtig, mit anderen Menschen zu spielen. Klara hat diesen Satz schon öfter von einem Hundebesitzer gehört. Sie hasst den Satz. Sie hat Angst vor Hunden. Wenn ein Hund nicht auf seinen Besitzer hört, verstärkt sich die Panik. Klara fühlt sich elend, wenn sie Angst hat. Aber mit etwas Abstand merkt die junge Frau, dass sie in dieser Situation übertrieben hat. Vor ihr sitzt ein zuckersüßer tollpatschig wirkender Welpe. Der sieht sie völlig verängstigt an. Klara wird klar, dass es nötig ist, an sich zu arbeiten. Zum einen ist es ihr wichtig, dass sie keine unbegründete Angst mehr fühlt. Außerdem ist ihr Ziel zu verhindern, dass sie andern Lebewesen unnötig wehtun. Klara beschließt, mehr mit Tieren zusammen zu unternehmen. So lernt sie den Umgang mit Tier besser kennen. Wenn alles wie geplant verläuft, schafft sie es, ihre Angst in normale Bahnen zu leiten. Eine ehrenamtliche Tätigkeit im Tierheim ist Klaras erste Idee. Diese Idee setzt sie ohne Zögern in die Tat um.

Im Tierheim trifft Klara auf viele unterschiedliche Hunde. Ihr werden in der ersten Zeit brave Vierbeiner anvertraut. Sie genießt die Spaziergänge mit den unterschiedlichen Tieren. Sie sieht ihre Betätigung aber sachlich. Ihr Ziel ist es, ihre Angst zu überwinden. Ans Herz wächst ihr in der ersten Zeit keiner der Hunde. Das ändert sich nach einem Spaziergang mit einer lebhaften Hündin. Es war nicht geplant, dass Klara den Wildfang ausführt. Der braune Hund hat den Ruf, bissig zu sein. Heute ist aber niemand anders da und das Tier braucht Bewegung. Klara hat keine Probleme mit der Hündin. Im Gegenteil. Der Spaziergang macht Klara Spaß. Sie wundert sich, als ein anderer Gassigänger unterwegs einen großen Bogen um sie schlägt, als er sie bemerkt. Auf Nachfrage erklärt dieser später, dass er etwas Angst hatte, dass sie die Hündin nicht im Griff hat. Klara passiert es öfter, dass andere denken, dass sie in einer Situation überfordert ist. Aber mit diesem braunen Racker hat sie zunächst keine Probleme. Im Gegenteil. Klara hat das Gefühl, dass sie die Hündin schon lange kennt. Das schlaue Tier lernt in Windeseile und setzt alle Kommandos rasch um. Klara fühlt das erste Mal einen Keim Selbstbewusstsein in sich wachsen. Es dauert nicht lange, dann zieht die braune Hündin bei ihr ein. Das neue Familienmitglied wird Klara in der ersten Zeit vor eine Reihe von Herausforderungen stellen.

Bei einem der ersten Spaziergänge mit der braunen Hündin in ihrem Wohnort trifft Klara auf einen Straßenhund. Dieser ist schwarz und hat weiße Tupfen auf der Nase. Er kommt in aller Selbstverständlichkeit auf sie zugelaufen. Klara hat Angst. In ihrer Vorstellung sieht sie ihre Hündin in Panik geraten und den Schwarzen beißen. Ihr ist es wichtig zu verhindern, dass ihre Hündin den anderen beißt. Ihre Phantasie kennt keine Grenzen und sie sieht sich jetzt selbst verletzt mit beiden Hunden beim Tierarzt. Sie hat Angst vor dem anderen Hund. Als Hundehalterin ist es an der Zeit, dass sie solche Situation im Griff hat. Sie ist dem aber nicht gewachsen. Der andere Hund kommt immer weiter auf sie zugelaufen. Er wedelt mit dem Schwanz und sieht freundlich aus. Klara nimmt die Körperhaltung des schwarzen Hundes nicht wahr. Sie ist gänzlich in ihrer Angst gefangen. Ihre Hündin wirkte zunächst freundlich und offen – voller Entdeckerfreude. Als der schwarze Hund immer weiter auf sie zu kommt, zeigt sie aber deutlich an, dass sie sich zur Wehr setzen wird. Klara bemerkt, dass ihre eigenen Hände zitter. Sie hat das Gefühl, als ob der Boden unter ihren Füßen weich wird. Sie überlegt wegzulaufen, weiß aber nicht, in welche Richtung. Jetzt hört sie ihre Hündin knurren und bellen. Das braune Tier zieht immer heftiger an der Leine. Für einen Moment glaubt Klara, dass der andere Hund langsamer wird. Ja, er zögert und er guckt traurig. Kaum zu glauben, aber Klara hat den Eindruck, dass der andere Hund jetzt betrübt dreinschaut. Zumindest zieht er den Schwanz ein und dreht ab. Klara atmet auf. Dieses Mal hatte sie Glück. Sie hat zwar nichts dazu beigetragen, aber die Situation ist ohne Schwierigkeiten ausgegangen. Trotzdem nimmt Klara für sich mit, dass es erforderlich ist, dass sie in der Hundeschule mit Ihrer Hündin weiter intensiv übt. Ihr Ziel ist es, sicherer zu werden. Klara wünscht sich, dass sie solche Situationen in Zukunft alleine und selbstbewusst meistert. Sie hatte heute Dusel. Manche Menschen verlassen sich auf ihr Glück. Klara gehört nicht zu diesen, sondern kontrolliert alles. Sie fühlt sich etwas hilflos, weil sie im Moment nicht klar sieht, wie sie ihr Ziel erreicht.

Der Hund mit den Tupfen auf der Nase läuft Klara bei den Spaziergängen mit ihrer Hündin öfter über den Weg. Der andere Hund kommt aber nie mehr so nah an sie heran. Klara erfährt, dass der Hund kein geordnetes Zuhause hat. Er gehört zu einer Familie im Dorf. Sie erinnert sich, dass sie den Hund früher schon öfter in Begleitung von Jugendlichen gesehen hat. Einmal hat sie ihn sogar gestreichelt. Damals hatte sie keine Angst vor ihm. In der Familie, in der der Hund wohnt, gibt es zurzeit Probleme. Diese sind so groß, dass sich keiner um den schwarzen Hund kümmert. Klara ist hin und hergerissen. Einerseits hat sie Angst vor dem Tier. Der Hund ist groß. Schon das Aussehen des Tieres verängstigt Klara, wenn dieser allein auf sie zugelaufen kommt. Andererseits fühlt sie Mitleid. An einem Tag im Spätsommer sieht sie den Streuner in der Nähe einer Bank. Die Bank nutzen Vogelbeobachter oft als Startpunkt für Ihre Erkundungen. An diesem Tag ist einer der Ornithologen vor Ort. Seine Tasche steht neben der Bank und Klara sieht, wie der Hund sich langsam an diese heranpirscht, die Nase in sie steckt und etwas mit der Schnauze aus ihr heraus nimmt. Mit der Beute läuft der Halunke dann schnell von dannen. Der Vogelbeobachter bekommt von all dem zunächst nichts mit. Er hat kein Auge für die Umgebung. Er schaut wie gebannt auf die Kamera in seiner Hand. Erst als der Hund mit dem Etwas im Mund wegläuft, wird der Fotograf auf den Dieb aufmerksam. Jetzt ist es aber zu spät. Der schwarze Hund ist schnell. Der Vogelbeobachter merkt sofort, dass er bei einer Verfolgung keine Chance hat. Außerdem scheint die Beute nicht unersetzlich zu sein. Der Vogelbeobachter beruhigt sich zumindest schnell wieder und vertieft sich erneut in die Welt der Fotos auf seiner Kamera. Klara ist froh, dass der schwarze Hund nicht in ihre Richtung abgehauen ist. Sie weiß nicht, ob sie eine Konfrontation mit ihrer Hündin heute erfolgreich gemeistert hätte. Jeden Tag besteht die Möglichkeit, dass sie dem schwarzen Hund wieder begegnen. In der letzten Zeit gab es keine brenzligen Situationen. Unter Umständen ändert sich das. Klara fühlt sich wieder hilflos. Dabei wäre sie so gerne ein selbstbewusstes Frauchen für ihre Hündin. Sie hat den kleinen braunen Mischling ins Herz geschlossen. Sie wünscht sich, dass der kleine Hund erkennt, dass er ein angenehmes und aufregendes Leben bei ihr hat und das es nicht notwendig ist, dass sie sich vor anderen Artgenossen fürchtet und diese anknurrt und anbellt. In ihrem früheren Leben hat es ihr sicher einmal geholfen, fremde Hunde anzubellen und zu beißen. Heute bringt ihr dieses Verhalten keine Vorteile mehr. Im Gegenteil: In Deutschland erschwert es ihr das Leben.

Klara nimmt sich Zeit für ihre Hündin. Sie spielt gerne mit dem lebensfrohen Tier im Garten. Die lebendige Art färbt ein bisschen auf die sonst oft depressive Klara ab. Das wirkt positiv auf ihre Stimmung. Sie wird in ihrem Vorsatz bestärkt, an sich zu arbeiten. Sie arbeitet jetzt intensiv daran, dass sie das richtige Frauchen für diesen Hund wird. Dazu ist es erforderlich, dass sie selbstbewusster auftritt. Aber wie setzt sie das am besten um? Sie ist so, wie sie ist. Die Gedanken in ihrem Kopf drehen sich wieder im Kreis und das Gedankenkarussell endet wie so oft in der Überzeugung, dass sie nicht in Ordnung ist. Sie ist falsch. Und genau bei diesem Gedanken sieht sie einen braunen Mischling über den Gartenzaun springen. Lebendig und froh rennt die Hündin auf dem Feld hinter dem Garten in Schleifen auf und ab. Der Zaun ist 1,20 Meter hoch. Klara hat es nicht für möglich gehalten, dass ein kleiner Hund über diesen Zaun springt. Das hat sie falsch eingeschätzt. Schon wieder ist etwas nicht richtig. Sie hat Glück. Sie hat ein Leckerli in der Tasche ihrer Jacke. Damit lockt sie die Hündin. Das klappt zunächst. Das Kommando “Hier” hat sie in den letzten Tagen ausgiebig mit dem Tier geübt. Wenn sie den Befehl ruft, kommt die Hündin schnell angelaufen und nimmt froh das Leckerli, bevor sie dann weiter freudig ihre Kreise auf dem Feld zieht. Klara hat keine Idee, wie sie die Hündin wieder über den Zaun zurück in den Garten bekommt. Die hilflose Frau überlegt selbst über den Zaun zu klettern. Sie bezweifelt aber, dass die Hündin ihr problemlos aufs Grundstück zurück folgt. Hierfür braucht Klara sicher eine Leine. Im Moment ist es nur möglich, dass sie den Hund am Fell packt und so am Zaun vorbei zum Hauseingang zieht. Im Garten trägt ihr Hund keine Leine und kein Halsband. Sie sieht nur eine Möglichkeit, Herr der Situation zu werden. Sie läuft ins Haus, um die Leine zu holen. Wenn der Hund dann kommt, bindet sie ihm diese schnell um. Angeleint ist es der Hündin nicht mehr möglich, wegzulaufen. Klara würde lieber mit mehr Vertrauen erziehen. Ihr widerstrebt das Anbinden. Im Moment hat sie aber keine andere Chance. Solange bis der Hund sie als Frauchen respektiert und ohne Leine auf sie hört, ist sie gezwungen, auf dieses Hilfsmittel zurückgreifen. Klaras Idee funktioniert nicht. Sie schafft es nicht, ihre Hündin einzufangen. Als sie mit der Leine aus dem Haus kommt, schaut der kleine Racker sie kurz an, bevor er schnell in die entgegengesetzte Richtung davon sprintet. An diesem Tag fühlt Klara sich deprimiert. Sie malt sich aus, welche furchtbaren Dinge jetzt möglich sind. Unter Umständen läuft die Hündin in ein Auto und wird überfahren. Oder sie beißt einen anderen Hund - oder gar einen Menschen. Am schlimmsten war dann aber, als Klara die Hündin bei ihrer Suche das erste Mal aufspürte. Sie erwartete, dass diese sich freute. Beim Spielen im Garten hatte sie sich dem Tier so nah gefühlt. Sie vermutete, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Jetzt, wo die Hündin sich ausgetobt hat und Zeit alleine verbracht hat, ist Klara sicher, dass sie sich freut einen liebgewonnen Menschen wiederzusehen. Dem ist aber nicht so. Klara braucht mehrere Anläufe, um die Hündin einzufangen. Am Schluss hat sie die Ausreißerin nur an die Leine bekommen, weil diese sich in einem Schieferabbaugebiet selbst in eine ausweglose Situation begeben hat. Klara hat ihre Hündin nicht selbst eingefangen. Sie war auf Hilfe von anderen angewiesen. Ein fremder Hundespaziergänger hat ihren Hund aufgespürt und zu ihr gebracht. Klara ist an diesem Abend traurig. Sie ist jetzt der Meinung, dass die Hündin sie nicht gerne hat. Warum gibt sie sich Mühe mit dem Tier? Das ist alles umsonst. Das Tier fühlt sich bei ihr nicht zu Hause. Klara empfindet sich als falsch. Sie ist nicht in Ordnung so, sonst wäre die Hündin doch gerne mit ihr zusammen.

Eine von Klaras positiven Eigenschaften ist ihr Durchhaltevermögen. Sogar wenn sie frustriert ist, gibt sie nicht schnell auf. Klara gibt bei der Arbeit mit ihrer Hündin ebenfalls nicht auf. Sie übt täglich mit dem Tier und probiert immer wieder neue Dinge aus. An einem Tag nimmt sie eine 15 Meter lange Laufleine. So hat ihre Hündin endlich die Gelegenheit etwas freier zu laufen. Diese Freiheit nutzt das agile Tier voll aus. Es schnuppert hier und wittert da. Klara findet das faszinierend. Sie setzt aber Grenzen. An der Langlaufleine erlaubt sie es ihrer Hündin genauso wenig zu ziehen, wie an der kurzen Leine. Immer dann, wenn das Tier zu arg zieht, bleibt Klara stehen. So wird das Ziehen im Kopf des Hundes mit einem negativen Gefühl verbunden. Das Tier zieht ja an der Leine, um schneller voranzukommen. Jetzt erreicht es damit aber eine Verlangsamung. Klara ist überzeugt, dass die Hündin so lernt, dass sie besser nicht an der Leine zieht. Zwischendurch übt sie immer mal wieder ein Kommando. Das klappt alles. Die Hündin ist schlau und lernt schnell. Aber dann passiert es. Klara wandert vor ihrer jagdfreudigen Hündin, als ein Hase im Feld aufspringt. Die braune Jägerin nimmt sofort die Verfolgung auf. Klara hätte nie geglaubt, dass ein Hund so schnell eine so hohe Geschwindigkeit erreicht. Die Leine gewinnt in kürzester Zeit an Spannung. Klara umklammert diese fest, ihre Fingerkuppen sind rot vor Anspannung. Dabei hat sie Angst mitgerissen zu werden. Ihre Hündin hat heute schon ein paar Mal angesetzt, um ein Tier zu verfolgen. Klara weiß, wie fest das Tier dabei an der Leine zieht. Ihr ganzer Körper ist angespannt und sie warte auf den Ruck. Aber es ruckt nichts. Es dauert einen Moment, bis ihr klar wird, dass die Leine gerissen ist. Am Ende des Feldes sieht sie einen braunen Punkt immer kleiner werden.

Nach dem Schreckmoment überlegt Klara, wie sie ihre Hündin am besten einfängt. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als dem braunen Punkt nachzugehen. Schon wieder ist etwas geschehen, was einem perfekten Menschen nicht passiert. Klara sieht sich erneut als Versagerin. Sie fühlt Traurigkeit in sich aufsteigen. Am liebsten würde sie sich mitten aufs Feld setzten und losweinen. Aber die Angst in ihr überwiegt. Am Ende des Feldes ist eine Landstraße. Es handelt sich um einen wenig befahrenen Fahrweg, aber wie der Teufel es will, kreuzt ihr Hund die Straße genau dann, wenn ein Auto auf ihr fährt. Außerdem gibt es viele andere potentielle Gefahren. Klara hat keine Zeit, sich ihrer Traurigkeit hinzugeben. Es ist wichtig, dass sie handelt. Das ist ihr klar. Sie läuft weiter in die Richtung, in der ihre Hündin verschwunden ist. Als sie mitten auf dem Feld ankommt, hat sie einen breiten Überblick über die Straße. Außerdem überblickt sie das Feld auf der anderen Straßenseite. Auf einer Freifläche neben dem Fahrweg steht ein Auto. Klara kennt das Auto. Es gehört einem Vogelbeobachter. Sie atmet tief durch. Es ist ihr unangenehm, dass der Mann in der Nähe ist. Dieser Naturliebhaber wird sie höchstwahrscheinlich beim Einfangen ihrer Hündin beobachten. Das ist ihr zutiefst peinlich. Es ist ihr immer unangenehm, wenn andere Menschen sehen, was sie macht. Sogar dann, wenn sie etwas Normales erledigt. Jetzt wird es höchstwahrscheinlich so sein, dass sie sich blamiert. Sie hat die letzten hilflosen Einfangversuche lebhaft in Erinnerung. Damals hat sie sich nicht mit Ruhm bekleckert. Und hier auf dem freien Feld, weit abseits des Dorfes, gibt es keinen Hinterhalt. Sie hat eine Möglichkeit, die Hündin zu umzingeln. Momentan hat sie aber ein anderes Problem. Sie weiß nicht, wo das braune Tier sich aufhält. Um ihre Hündin zu umzingeln, ist es vonnöten, dass sie weiß wo sie steckt. Im Moment sieht sie nichts Verdächtiges. Einerseits freut sie sich darüber. So fällt ihr Fauxpas dem Vogelfreund nicht auf. Gegebenenfalls bemerkt er die peinliche Situation gar nicht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie Glück hat. Andererseits würde sie aber einiges darum geben, wenn sie die Situation im Griff hätte und genau wüsste, dass nichts Schlimmes passieren wird. Sie hat jedoch im Moment die Kontrolle verloren. Sie steht hilflos mitten auf einem Feld und weiß nicht, wo sich ihre Hündin aufhält. Nirgendwo bewegt sich etwas. In ihren Augen ist das nicht möglich. Ihre Hündin ist auf keinen Fall schon bis zum Ende des Feldes gelaufen, dass sich auf der anderen Straßenseite ausstreckt. Dieses Gebiet überblickt Klara im Moment. Sie ist sicher, das sie etwas Auffälliges zu bemerkt, falls die Hündin sich bewegt. In dem Gebiet vor ihr gibt es nicht viele Versteckmöglichkeiten. Klara sieht sich konzentriert um. Neben der Straße, da wo der Bach entlang fließt, ist eine Bank. Und auf dieser Bank sitzt der Vogelbeobachter. Sie hatte es befürchtet. Für einen Naturliebhaber achtet der Mann wenig auf die Umgebung. Er starrt schon wieder wie gebannt auf seine Kamera. Heute wirkt er auf Klara beängstigend vertieft. Hinter der Bank ist die Landstraße etwas erhöht. An dem Hang hinauf zur Straße wachsen wilde Büsche. Wenn ihre Hündin sich im Bereich dieser Sträucher aufhalten würde, dann wäre sie dem Vogelbeobachter aufgefallen. Sie wäre äußerst nah an ihm vorbeigelaufen. Der Mann säße höchstwahrscheinlich nicht mehr so unaufgeregt auf der Bank. Davon ist Klara überzeugt. Der Mann hat zwar den schleichenden Hund vor ein paar Tagen zunächst nicht wahrgenommen, eine in unmittelbarer Nähe aufgeregt herumrennende Hündin lenkt ihn aber sicher von seiner Kamera ab. Heute steht die Tasche des Vogelbeobachters wieder hinter der Bank auf dem Boden. Auf der anderen Seite der Straße liegt das Feld ebenfalls etwas niedriger als der Fahrweg. Auf dem abschüssigen Gelände zwischen Landstraße und Feld haben sich auf dieser Straßenseite ebenfalls Sträucher ausgebreitet. Klara erinnert sich, dass der Wildwuchs schon ein paar Mal die Aufmerksamkeit ihrer Hündin auf sich gezogen hat. Das Wäldchen liegt abseits. Auf der idyllischen Landstraße oberhalb fahren nur selten Autos. Auf der anderen Seite grenzen ausschließlich Federn an das Gehölz. Kein Feldweg führt direkt an den Büschen vorbei. Zwischen den Pflanzen verstecken sich gewiss öfter wilde Tiere. Was da kreucht und fleucht, hinterlässt Geruchsspuren. Ihre Hündin hat einen ausgeprägten Jagdtrieb. Für sie gibt es nicht viele Dinge, die aufregend sind, als solchen Gerüchen mit ihrer Nase zu folgen. Klara überlegt wie sie am besten vorgeht. In Ermangelung eines alternativen Plans läuft sie erste einmal drauflos. Sie vermeidet es, direkt an der Bank vorbei zu spazieren. Sie hat eine Hundeleine um die Schulter gebunden aber keinen Hund in ihrer Nähe. Das verleitet andere Menschen meist dazu einen vermeintlich lustigen Kommentar abzugeben. Solche Bemerkungen sind für Klara eine Qual. Oft reagiert sie dann gereizt, obwohl sie das nicht anstrebt. Sie weiß, dass ihre Unsicherheit die Ursache für dieses Verhalten ist. Andere Menschen wissen das aber nicht. Deshalb versucht sie, Situationen zu meiden, in denen sie sich schutzlos fühlt. So vermeidet sie es heute, dem Vogelbeobachter zu begegnen. Ihr Bauchgefühl führt sie auf die andere Straßenseite. Mittlerweile hat sie einen Plan. Sie beabsichtigt, sich als erstes das unwegsame und mit Sträuchern bewachsene Gebiet ansehen, das schon in den letzten Wochen oft das Interesse ihrer Hündin hervorgerufen hat. Eine bessere Idee hat Klara im Moment nicht.

Für Klara ist es kein Problem, zu den Büschen vorzudringen. Sie ist mittlerweile sogar voller Neugier. Sie wandert oft hier vorbei. Die Sträucher hat sie schon mehrfach von der Ferne gesehen. Was sich genau in der Mitte dieses Bewuchses ausbreitet, weißt Klara nicht. Anhand der Höhe der Pflanzen vermutet sie, dass in der Mitte eine kleine Senke ist. Das nimmt sie aber nur an. Sie weiß es nicht. Als sie über das abgeerntet Feld streift und vor den Sträuchern ankommt, hat sie den Eindruck, Stimmen zu hören. Klara hält inne. Es hört sich so an, als ob sich Menschen innerhalb des Wäldchens unterhalten. Sie vermutet eine Täuschung. Die Geräusche entstehen sicher nicht innerhalb der Büsche, höchstwahrscheinlich unterhalten sich auf der anderen Straßenseite Menschen. Es ist möglich, dass der Vogelbeobachter Gesellschaft bekommen hat. Trotzdem hat Klara ein komisches Gefühl. Sie überlegt kurz ihr Vorhaben aufzugeben. Es ist unwahrscheinlich, dass ihre Hündin zwischen diesen Pflanzen herumläuft. Es ist nicht notwendig, in dem Bereich zu suchen. Dann überwiegt aber ihre Neugier. Sie spricht sich selbst Mut zu. Die Geräusche bildet sie sich sicher ein. Wer hält sich schon am helllichten Tag dort in diesem Gestrüpp auf, fragt sie sich selbst. Sie pirscht langsam vor. Dabei kommt sie sich vor, wie eine Raubkatze. Als sie weiter vordringt, ist sie sich sicher, dass sich in dem Gebüsch etwas bewegt. Klara freut sich. Ihre Entscheidung, weiter im Wädchen zu suchen, war goldrichtig. Sie vermutet ihre Hündin jetzt hier in der Nähe. Es ist denkbar, dass sie sich mit der Leine an einer der Pflanzen verfangen hat und aus dem Grund gefangen ist. Klara schöpft neuen Mut. Das wäre ihr recht. In diesem Falle hätte sie ein leichtes Spiel. Es wäre ihr möglich, die Ausreißerin bequem einzufangen. Denn, für die Hündin ist es so undenkbar, wieder vor ihr zu flüchten.

Vor Ort angekommen ist Klara zunächst überfordert. Sie findet ihre Hündin zwar wie erwartet hier vor. Das braune Tier hat sich mit der Leine selbst gefangen. Klaras Vermutung bestätigte sich insoweit. Anders als erwartet ist das Halsband nicht um eine Pflanze verwickelt. Bevor Klara aber genau erkennt, was die Leine festhält, sieht sie das Tier an. Ihre Hündin liegt zähneklappernd auf dem Boden. Sie macht einen eingeschüchterten Eindruck. Klara überlegt, warum das Tier so verängstigt ist. Geduckt liegt die Hündin auf der Erde. Über ihr befindlich sich ein Zweirad – ebenfalls am Boden liegend. Der Rest der Hundeleine hat sich in dem Motorrad verfangen. Weiter unten bemerkt Klara einen Jungen. Sie kennt den Teenager. Er wohnt im gleichen Ort wie sie und ist so alt wie ihre Tochter. Zu Grundschulzeiten hat er ab und an bei ihnen gespielt. Er hat aber nie auf das gehört, was man ihm sagte. Klara erinnert sich an die ein oder andere Situation, in der sie sich überfordert fühlte. Da die Eltern des Jungen selbst nie zu sehen, war Klara froh, als ihre Tochter weniger mit ihm unternahm. Offensichtlich gehört das Zweirad ihm. Warum der sich hier herumtreiben, ist ihr im Moment egal. Der Jugendliche ist ihr nicht sympathisch. Er ist die Art Mensch, vor denen sie schon als Kleinkind im Kindergarten Angst hatte. Im späteren Leben hat Klara mit Typen wie ihm ebenfalls keine positiven Erfahrungen gesammelt. Oft verhalten diese sich respektlos ihr gegenüber. Höchstwahrscheinlich hat der Junge an der Stelle heimlich geraucht oder Alkohol getrunken. Es ist naheliegend, dass ein Teil des Mülls von ihm ist, der oft auf der anderen Seite der Straße in der Nähe der Bank liegt. Aber das ist für Klara im Moment nebensächlich. Sie ist heilfroh, dass sie ihre Hündin aufgespürt hat. Sie bemerkt, dass der Junge sie ebenfalls nicht bewusst wahrnimmt. Er ist anderweitig beschäftigt. Der schwarze Hund läuft bellend um ihn herum. Klara weiß, dass der Junge ein Freund der Familie ist, in der der schwarze Hund offiziell sein Zuhause hat. Kurz fragt sie sich, ob die beiden zusammen unterwegs sind. Dann passiert aber etwas, dass Klara weiter verwundert. Hinter dem Jungen und dem schwarzen Hund erkennt sie ein Rohr und aus dem Rohr kommt der Vogelbeobachter herausgekrochen. Sie fragt sich kurz, ob es in dem Rohr seltene Tiere gibt, die dieser Mann beobachtet hat. Die ganze Situation wird ihr immer unangenehmer. Am liebsten würde sie im Erdboden verschwinden. Ihr Ziel ist es, so schnell wie möglich von hier wegzulaufen. Sie sieht zu ihrer Hündin auf. Deutlich erkennt sie in den Augen des verängstigen Tieres, dass dieses das gleiche Ziel hat. Sie zwängt sich schnell zwischen den wild wachsenden Büschen hindurch hinauf zu dem Motorrad. Beim Zweirad angekommen gelingt es ihr schnell, die Leine zu entwirren. Im selben Augenblick bemerkt Klara, dass ihre Hündin dicht neben ihr steht. Es ist gar kein Kommando notwendig. Das braune Tier hat gar nicht vor, von ihr wegzulaufen. Sie hält sich nah an ihr Frauchen. Klara vermutet, dass die Hündin Angst vor dem schwarzen Hund hat und deshalb weiter nach oben zieht. Nebenbei fällt ihr auf, dass das verängstigte Tier einen großen Bogen um das Zweirad macht. Danach hält die braune Hündin sich aber wieder dicht an ihr Frauchen. Die beiden bahnen sich flink einen schmalen Pfad hoch zur Straße. Von hier gelangen sie schnell wieder auf den Feldweg, auf dem sie vorher gegangen sind. Auf dem weiteren Heimweg lässt Klara die erlebte Situation Revue passieren. Das war alles merkwürdig. Sie liebt mysteriöse Dinge. Sie denkt sich unterschiedliche Erklärungen für das Zusammentreffen aus. Es macht ihr Spaß, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen. Am Abend schreibt sie die ersten Zeilen der Geschichten auf. Das Schreiben macht ihr Spaß. Sie bringt an den nächsten Abenden weitere Dinge zu Papier. Die Handlung wird immer runder und am Ende lässt sie alles zu einem Buch drucken. Klara hat endlich etwas gefunden, dass sie erfüllt. Sie weiß nicht, ob sie ihren Lebensunterhalt mit Schreiben sicherstellen wird. Aber sie ist zuversichtlich, weil sie ein Ziel hat, auf das sie hinarbeitet. Sie wird ab diesem Zeitpunkt weniger programmieren. Die frei werdende Zeit wird sie zum Schreiben nutzen. Ihre neue Zuversicht färbt scheinbar auf ihre Hündin ab. Klara hat mehr und mehr das Gefühl, dass ihr Haustier sie respektiert. Es gibt immer weniger Begegnungen mit anderen Hunden, bei denen Klara es nicht gelingt, ihre Hündin zu beruhigen. In ihr wächst die Überzeugung, dass es sich nicht nur um Glück handelt. Es liegt an ihr. Sie ist in Ordnung - so wie sie ist. Sie weiß nicht genau, was passiert ist. Klara genießt es, dass sie sich immer sicherer fühlt. Manchmal überlegt sie, was sie heute anders macht. Sie wünscht sich, zu wissen, warum sie sich in Ordnung fühlt. Sie wäre gerne sicher, dass sie nicht wieder in den alten Zustand zurückfällt. Beim Überlegen kommt sie dann immer zu dem Ergebnis, dass sie sich weniger um vergangenes oder zukünftiges sorgt. Bevor sie jetzt wieder in dieses alte Muster verfällt, beendet sie ihre Überlegungen und schickt die Gedanken von dannen, die zum Ziel haben, das Leben zu kontrollieren.

Die kleine Maus

5 s i c h t Weisen

Die kleine Maus lebt im Hier und Jetzt. Das ist meist leichter gesagt als gelebt. Gewöhnlich bemerken Mäuse nicht einmal, welche Gedankenketten in ihnen ablaufen und dass sie kaum etwas von der Gegenwart real mitbekommen. Sie beschäftigen sich damit, was in der Zukunft passiert. Am Abend gilt es, Essen zu suchen, morgen steht eine schwierige Aufgabe an, übermorgen kommt die Maus aus dem Nachbarloch zu Besuch. Außerdem ist der Bau nicht wasserdicht – hier stehen Arbeiten an. Wichtig ist weiterhin, wie eine andere Maus über einen denkt. Oft sind Mäuse mit ihren Gedanken ebenfalls in der Vergangenheit. Sie ärgern sich heute genauso wie damals über verpasste Gelegenheiten oder Beleidigungen von anderen.

Nur manchmal reißt es eine Maus aus ihrem Trott heraus. Etwa, wenn ein Freund stirbt oder sie selbst erkrankt. Dann wird der normalen Maus bewusst, dass sie zu oft über die Vergangenheit oder die Zukunft nachdenkt. Und sie bedauert es, bisher nicht häufiger im Hier und Jetzt gelebt, und das Leben genossen zu haben.

Was bedeutet es, im Hier und Jetzt zu leben? Bewusst in der Gegenwart zu sein hat zur Folge, dass die eigenen Gedanken nicht in der Vergangenheit kreisen. Wir quälen uns nicht mit schmerzlichen Erinnerungen. Zudem sorgen wir uns nicht über zukünftige Ereignisse und malen uns aus, welche fürchterlichen Dinge denkbar sind. Die Gedanken sind bei der Aufgabe, die wir im Moment erledigen. Wir bewerten die augenblickliche Erfahrung nicht und vergleichen diese nicht mit Vergangenem.

Genauso lebt die kleine Maus. Sie spürt, was sich jetzt im Augenblick in ihrem Körper ereignet und was sie im Moment fühlt. Heute ist ein wohltuender Sommertag. Die kleine Maus ist damit beschäftigt, Körner für den Vorrat zu suchen. Dabei denkt sie nicht darüber nach, dass das Sammeln unter Umständen vergeblich ist. Ihr ist es schon mehrmals passiert, dass sie das Lager gefüllt hat und ihre Arbeit kurz danach zerstört wurde. Meist ist ein Hund der Übeltäter. Sie denkt beim Sammeln nur kurz darüber nach, dass ihre Mutter im letzten Jahr gestorben ist und die kleine Maus mit tiefer Traurigkeit zurückgelassen hat. Ein paar Minuten fühlt die Maus sich betrübt. Sie hat gerne mit ihrer Mutter zusammen Nahrung gesucht. Dabei hat sie eine Menge gelernt. Ihre Mama hat ihr die Stelle unter der Bank gezeigt, an der sie fast täglich leckere Brotkrumen findet. Sie fühlt die Traurigkeit eine kurze Weile, die sie beim Gedanken an ihre Mutter erfüllt. Das ist im Grund positiv, denn es zeigt ihr, wie bereichernd die Zeit mit ihrer Mama war. Ohne Höhen gibt es keine Tiefen. Trauer ist nur vermeidbar, wenn man die Freude nicht an sich heranlässt; das weiß die kleine Maus. Im letzten Jahr war sie oft und lange betrübt. In diesem Jahr werden die Zeiten immer rarer. Und heute findet sie schnell wieder zurück in den Augenblick. Sie genießt die Sonnenstrahlen, die eine behagliche Wärme auf ihrem Fell bewirken. Sie freut sich, dass sie viele Körner auf dem Feld findet und ist dankbar, dass sie die Kraft hat, eine Menge zu sammeln und zu tragen. Als sie genug für den Tag gearbeitet hat, fällt ihr ein, dass sie sich oft danach gesehnt hat, einmal die Böschung hinaufzukriechen und von hier die Aussicht zu genießen. Sie verschiebt ihre Träume nicht auf später, sondern verwirklicht sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten. So macht die kleine Maus sich heute auf den beschwerlichen Weg zur Böschung, die hinter der Bank hinauf zur Straße führt.

Was hindert andere Mäuse daran, im Hier und Jetzt zu leben? Auf diese Frage gibt es eine Menge Antworten. Viele stellen hohe Ansprüche an sich und glauben, dass sie es erst verdient haben sich etwas zu gönnen, wenn alles perfekt erledigt ist. Deshalb nehmen sie sich nicht das Recht heraus, für sich selbst Gutes in die Tat umzusetzen. Die kleine Maus denkt hier anders. Sie weiß, dass sie sich eine Belohnung verdient hat, wenn sie etwas geschafft hat – sogar dann, wenn es nicht perfekt ist. Sie treibt sich nicht immer weiter an. Sie weiß, dass dies lebenswichtig ist und positiv für alle in ihrer Umgebung. Wenn sie mit sich im reinen ist, überträgt sie dies an ihre Mitmäuse. Angetrieben und erschöpft ist sie unzufrieden und verbreitet Disharmonie.

Außerdem hat die kleine Maus gelernt, loszulassen und zu verzeihen. Sie grübelt nicht über die Vergangenheit. Sie hat keine Angst, sich falsch zu entscheiden. Vor ein paar Tagen wurde ihr Bau von einem Hund zerstört. Die kleine Maus weiß, dass es nichts bringt, ab jetzt ihre Zeit damit zu vergeuden, mit Hunden zu hadern. Vielmehr überlegt sie, wie sie ihren Bau in der Zukunft am besten schützt. Der Ausgang auf dem Feld in der Nähe zur Bank ist gewiss nicht vorteilhaft. Deshalb überlegt sie, welche Alternativen es gibt. Sie hat die Möglichkeit ihren Bau zum Bach hin zu erweitern. Hier ist der Ausgang versteckt. Dieser Ort birgt die Gefahr, dass ihr Bau bei einem Regenguss überflutet wird. Sie erinnert sich an eine Stelle oben auf der Böschung. Diese hat sie vor ein paar Tagen entdeckt. Von hier hat sie einen weiten Ausblick. Außerdem kommen hier, wenn überhaupt, nur selten Hunde vorbei. Die Stelle ist laut, weil Autos in der Nähe fahren. Außerdem ist es mühselig den ganzen Bau an einer anderen Stelle neu zu erschaffen. Trotz der Nachteile entscheidet sie sich für den Bau auf der Böschung. Die Vorteile überwiegen in ihren Augen. Sie denkt die einzelnen Varianten durch. Dann entscheidet sie sich und stellt diese Entscheidung nicht grundlos in Frage. Die kleine Maus weiß, dass andere Mäuse oft keine Entscheidung treffen, weil sie entschlussunfähig sind. Immer wieder hin und her zu überlegen ist quälend. Neue Planungen bringen nur einen Vorteil, wenn sich die Fakten ändern. Die kleine Maus vertraut sich selbst. Sie quält sich nicht mit Sorgen, etwas nicht zu schaffen. Sie hat keine Angst vor dem Ungewissen. Deshalb grübelt sie nicht über die Zukunft. Sie hat gelernt, in sich hineinzuhören. Sie spürt sich selbst und ihre Bedürfnisse. Die kleine Maus braucht einen Bau, in dem sie sich sicher fühlt. Sie weiß, dass sie in der Lage ist, einen solchen für sich und ihre Lieben zu bauen. Sie hat dies in der Vergangenheit schon mehrmals bewiesen. Mit dem neuen Standort ist der Aufwand etwas größer. Dafür ist Sommer und die Rahmenbedingungen sind leichter. Zweifeln hilft ihr nicht. Im Gegenteil. Es raubt ihr Energie, die sie zum Bauen benötigt. Als die kleine Maus ihre Entscheidung den anderen Mäusen erzählt, trifft sie auf Unverständnis. So macht man das nicht. Keiner ihrer Nachbarn hat früher einmal einen Bau so weit von der Gruppe weg gebaut. Die kleine Maus ist Gott sei Dank nicht bestrebt, anderen zu gefallen. Sie weiß, dass das unmöglich ist. Egal was sie macht, es wird immer eine Maus geben, die ihre Handlung in Frage stellt. Außerdem ist ihr klar, dass sie den Kontakt zu sich selbst verliert, wenn sie sich in erste Linie um die Zuwendung von anderen bemüht. Sie vergleicht sich nicht mit Mäusen, die neben ihr leben. Dies führt nur dazu, dass sie an ihrem eigenen Wert zweifelt. Wenn sie vergleicht, kommt sie innerlich nicht zur Ruhe. Die kleine Maus ruht in sich selbst. Konzentriert nimmt sie die Arbeit am neuen Bau in Angriff.

Nach einigen Tagen hat die kleine Maus ihren Bau auf der Böschung fertiggestellt. Sie ist glücklich. Im Hier und Jetzt empfindet sie Glücksgefühle, Gelassenheit, innere Harmonie. Oft hat die Maus erlebt, dass andere Mäuse glaubten, etwas für Ihr Glück zu benötigen. Sie arbeiteten darauf hin und wenn sie es endlich erreichen, fällt ihnen ein weiterer Mangel auf. Sie nehmen sich keine Zeit, zu genießen. Sie haben jetzt zwar beispielsweise eine angesehenere Stellung als gereifte Maus, eine leichtere Arbeit, einen sichereren Bau und sie haben Nachkommen, die bei der Nahrungssuche unterstützen. Sie haben alles das, was sie einmal als Voraussetzung für Glück ansahen. Eines haben sie nicht. Sie sind nicht dauerhaft glücklich. Warum nicht? Sie haben doch alles, wovon sie dachten, dass es Voraussetzung für ein frohes Leben ist. Der Grund, warum sie nicht glücklich sind, ist ihre Vorstellung. Ihr Glücksmodell ist glücksfeindlich! Sie verknüpfen Ihr Glück mit der Erfüllung von Bedingungen.

Die kleine Maus weiß, dass wahres Glücklichsein nicht an Bedingungen geknüpft ist. Es ist in uns und wartet darauf, dass wir dafür zugänglich sind. Viele Mäuse öffnen sich nicht für ihr Glück. Sie sehen das, was sie im Moment sind und haben, nicht als perfekt an. Die kleine Maus akzeptiert, dass in jedem Augenblick alles vollkommen ist. So wie es ist - sogar wenn es scheinbar unvollkommen ist. Der kleinen Maus ist klar, dass die Bedingungen, die sie an das Sein und die Mitmäuse stellt, die Ursache für Unglück sind - nicht das Leben oder die Mäuse selbst.

Wie lernt man, häufiger im Hier und Jetzt zu sein? Die kleine Maus richtet ihren Blick im Alltag immer mal wieder auf den Moment. Sie schaute sich um. Beobachtete die Wolken, den Wind, der sich in den Blättern verfängt und die spielenden Mäuse vor ihrem Bau. Indem sie bewusst auf das achtet, was sie sieht, spürt und wahrnimmt, genießt sie den Augenblick und entspannte. Sie erkennt die Dinge, wie sie sind.

An einem behaglichen Endsommertag sitzt die kleine Maus am Ufer des Bachs und erfreut sich ihres Daseins. Plötzlich hört sie etwas herankommen. Sie bemerkt einen Menschen auf sich zukommen. Sie verkriecht sich im Gras. Dies ist in der Regel keine Gefahr für eine Maus. Ein Mensch ist groß und nimmt Mäuse meist nicht wahr. Sie sitzt kurz vor der dunklen Höhle, aus der der Bach herausgeflossen kommt. Hier ist sie bisher keinem Menschen begegnet. Aus ihrem Versteck heraus beobachtet sie, wie der Mensch im Dunkel verschwindet. Die kleine Maus ist beeindruckt. Sie wüsste gerne, was in der Höhle oder dahinter ist. Bisher hat sie sich nicht getraut, weiter in diese vordringen. Sie schaut dem Menschen hinterher und da passiert es: Sie hört Schritte hinter sich und plötzlich packt sie etwas. Ihr wird schwarz vor Augen und im nächsten Moment findet sie sich in einer Umgebung wieder, die ihr völlig fremd ist.

Ihr erster Wunsch ist, wieder zurück in ihre alte und bekannte Umgebung zu gelangen. Ihr wird schnell klar, dass das nicht problemlos möglich ist. Sie weiß nicht, wo sie ist und deshalb kennt sie den Rückweg nicht. So sucht sie nach einer anderen Lösung. Sie braucht eine kurzfristige Alternative. Es ist Abend und in einer neuen Umgebung ist es wichtig, dass sie sich geschützt ausruht. Im nächsten Moment sieht sie eine andere Maus. Sie ruft laut um Hilfe. Daraufhin schaut diese zu ihr herüber. Die kleine Maus beschreibt der anderen Maus die Situation. Diese versteht nicht alles, aber ihr ist sofort klar, dass die kleine Maus Hilfe benötigt. Sie lädt sie ein, erst einmal in ihrem Bau zu übernachten. Die kleine Maus hat eine erste Lösung gefunden.

Der nächste Tag ist voller neuer Eindrücke. Die kleine Maus lernt jede Menge Artgenossen kennen. Einige sind ihr auf Anhieb sympathisch, andere mag sie gar nicht. Die fremden Mäuse integrieren die kleine Maus in ihren Alltag und die kleine Maus fügt sich selbst in das Leben der anderen ein. Es gibt eine Menge Dinge, die besser sind. Manches war ihr vorher lieber.

Immer mal wieder denkt die Maus sehnsüchtig an ihre alte Heimat. Oft sehnt sie sich dorthin zurück. Meist sucht sie sich dann einen Platz, an dem sie alleine ist. In ihrer Vorstellung begibt sie sich zu ihren alten Freunden. Manchmal ist die Situation fast greifbar. Sie nimmt den Geruch ihres früheren Familienverbandes deutlich wahr. Ab und an weint sie und andere Mal fühlt sie sich freudig erregt. Ihr ist klar, dass diese Begebenheiten nicht real sind. Es handelt sich um eine Art Ritual. Die kleine Maus schafft sich so einen Ort für die Gedanken und Gefühle, die auftauchen, wenn sie sich nach ihrer alten Heimat sehnt. So ist sie im echten Leben frei von diesen unangenehmen Empfindungen. Es ist ihr nicht möglich, die Realität zu ändern. Der Weg durch das dunkle Loch ist für eine Maus unmöglich. Nicht, dass wir uns falsch verstehen, sicher wird die kleine Maus hin und wieder an ihre alten Freunde denken und die üblichen Gefühle verspüren. Sie hat aber einen neuen Platz für sich gefunden.

Die kleine Maus hat ihre Lebenssituation nicht bewusst geändert. Aber: Sie nimmt die Herausforderung an und holt das beste aus der Situation heraus. Beispielsweise hat die westliche Seite der Straße den Vorteil, dass die kleine Maus ab jetzt jeden Abend den Sonnenuntergang länger genießt.

Impressum

Dimna Di
Condado de Alhama
Bulevar de Los Naranjos
Penthouse Block 14
50049 Alhama de Murcia
Spain
E-Mail: mail At dimna.de

Ich freue mich über Kontaktaufnahmen von Gleichgesinnten und beantworte diese zeitnah!

Datenschutz

Ich erhebe oder speichere keine personenbezogenen Daten über diese Website. Um den Aufruf dieser Seite zu ermöglichen, speichert der Internet-Provider einige Daten in Server-Log-Files, die ein Browser automatisch weiterleitet: Browsertyp und Browserversion, verwendetes Betriebssystem, Referrer URL, Hostname des zugreifenden Rechners, Uhrzeit der Serveranfrage, IP-Adresse. Die Grundlage für die Datenverarbeitung ist Art. 6 Abs. 1 DSGVO, der die Verarbeitung von Daten zur Erfüllung eines Vertrags oder vorvertraglicher Maßnahmen erlaubt.